Kreis und quer:Zu viel Ruhe ist auch Stress

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Endlich mal wirklich stade Vorweihnachtszeit? Von wegen! Zur Einsiedelei muss man geboren sein

Kolumne Michael Morosow

Das Jammern über den vorweihnachtlichen Stress gehörte Jahr für Jahr zum Fest wie der Glühwein zum Christkindlmarkt. Wer konnte, flüchtete zum Skifahren in die Berge oder buchte einen Strandurlaub auf den Bahamas. Wer nicht konnte, flüchtete in Träume, die von Ruhe und Entschleunigung handeln - und wurde möglicherweise von einem penetranten "Jingle bells" wieder in die nervige Realität zurückgeholt. Sich wenigstens mal für eine Woche von seinen acht Milliarden Mitmenschen separieren zu können, nicht mehr vor die Tür treten zu müssen, außer der Pizzabote klingelt, kurz: zuhause einfach sinnfrei abhängen zu dürfen - das war wohl der Wunsch nicht weniger Weihnachtsmuffel gewesen.

Und jetzt, da ihrem Verlangen entsprochen wird, das Leben im Pandemiejahr auf Notbetrieb runtergefahren wird? Jetzt haben selbst die entschiedensten Festverweigerer keinen Bock mehr auf Kontemplation und sieben Pizzen die Woche. Sie würden gerne wieder flüchten wie die Jahre zuvor, dieses Mal aber nicht vor dem Stress, sondern vor der Ruhe. Zur Einsiedelei muss man halt geboren sein. Dummerweise sind für sie aber für die nächste Zeit alle Fluchtwege abgeschnitten, sind Bahamas und Zugspitze tabu für sie, und wenn's schlecht läuft, dürfen sie von Montag an nicht einmal mehr vor die Tür treten, außer der Pizzabote klingelt. Es ist daher nichts anderes als eine seelische Grausamkeit, eine Verhöhnung der im eigenen Haus Festgehaltenen gar, wenn Wetterexperten jetzt verkünden, dass die Chancen auf weiße Weihnacht in Bayern gestiegen seien. Da schaut man doch am besten gleich gar nicht mehr aus dem Fenster, will man nicht noch mehr leiden als ohnehin schon. Draußen ein Wintertraum, drinnen wir - davon kriegt man wahrlich keine leuchtenden Augen. Das Münchner Original Karl Valentin hatte es sicher ganz anderes gemeint, als er sagte: "Wenn die stade Zeit vorüber ist, dann wird's auch wieder ruhiger" - was einst eher ironisch gedacht war, wirkt heute wie eine Drohung.

Das Leiden verhinderter Skifahrer, Strandgänger und Glühweintrinker mag jetzt groß sein, aber das der Kinder und Jugendlichen nicht weniger. Vor Schneeballschlachten müssen sie jetzt die Haushalte abzählen, die daran beteiligt sind. Und wenn es auch für sie schlecht läuft, dürfen sie von Montag an selbst das nicht mehr, außer sie könnten nachweisen, dass es systemrelevant ist, einen Gegner mit einem gezielten Wurf auf die Zwölf zu treffen. Systemrelevant vielleicht nicht, aber in jedem Fall gesund, zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage der Uni-Klinik München. Zwischen März und September dieses Seuchenjahres haben danach neun Prozent der unter 14-Jährigen deutlich an Gewicht zugelegt. Weil ihnen Bewegung fehlte und weil die Pizzaboten zu oft an den Haustüren geklingelt haben. Aber jetzt auch noch Salat statt Junkfood? Das Problem wird zunehmen.

© SZ vom 12.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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