Kommentar:Karl Marx im Poststadel

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Haars Altbürgermeister Helmut Dworzak geht den Wandlungen und Auswüchsen des Kapitalismus nach

Von Bernhard Lohr

Dass im Landkreis München viele ein großes Rad drehen, hat sich herumgesprochen. Man könnte die Weltraumpläne erwähnen, die der Ministerpräsident unter dem Slogan "Bavaria One" in Ottobrunn und Taufkirchen verfolgt. Weltfirmen residieren im Münchner Umland, und manch unscheinbare Unternehmung wächst in einem Gewerbegebiet am Münchner Stadtrand zu einem Global Player heran wie der Finanzdienstleister Wirecard aus Aschheim. Dabei bleibt vieles noch im Halbdunkel. Wer hat schon mitgekriegt, dass der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky, der den Handelskonzern Metro übernehmen möchte, das mit einer Firma macht, die in Grünwald ihren Sitz hat? EP Global-Commerce heißt die Beteiligungsgesellschaft am Forstweg 8.

Viele politisch Interessierte und kritische Geister werden sich jetzt bestätigt fühlen, dass in der Steueroase Grünwald der Finanzkapitalismus seine Blüten treibt. Ja, auch diese Menschen gibt es im Landkreis in besonders großer Zahl, in dem gut situierte Bildungsbürger nicht nur an ihren Arbeitsplätzen Großes bewegen, sondern auch gerne über das große Ganze nachdenken. Viele beschäftigt etwa die Frage, wie die bis heute nachwirkende Finanzkrise des Jahres 2008 überwunden werden kann. Sie fragen sich, wie es zu diesen Verwerfungen kommen konnte - zur Fast-Pleite von Griechenland und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in Spanien, Portugal und Großbritannien. Und welche Rolle Deutschland dabei spielte und spielt.

Zu diesen Fragenden gehört der Mann, der jüngst bei einer Veranstaltung im Haarer Poststadel ein T-Shirt trug, auf dem das bekannte Konterfei des vollbärtigen Karl Marx zu sehen war. Es war Haars Altbürgermeister Helmut Dworzak, der im Ruhestand an der Volkshochschule einen gut besuchten Kurs im "Studium generale" leitet, in dem er den Wandlungen und Auswüchsen des Kapitalismus nachgeht und versucht, seinen oft älteren Schülern die Eurokrise zu erklären. Das Thema bewegt. Es ist nicht lange her, als der Eurokritiker Joachim Starbatty in Haar - damals als Vertreter einer noch anderen, vor allem eurokritischen AfD - vor vollem Haus das Ende der Gemeinschaftswährung propagierte. Die AfD bekam Zulauf damals in Haar, es gründete sich sogar ein eigener Ortsverband. Heute ist dieser faktisch aufgelöst.

Die fremdenfeindliche Schiene der AfD zieht nicht in Haar und auch im übrigens Landkreis nicht, damals wie heute. Lieber macht man sich die Mühe, komplexe ökonomische Zusammenhänge zu verstehen. Erhellende Einsichten hat Dworzak jüngst übrigens bei der Lektüre des österreichischen Ökonomen Stephan Schulmeister gewonnen, der vor einem Ende der Währungsunion warnt und fordert, die Politik innerhalb EU-Institutionen vom neoliberalen Dogma zu befreien. Revolution ist abgesagt. Doch als Philosoph und Ökonom ist auch Karl Marx aus Dworzaks Sicht wieder aktuell. Auf seinem T-Shirt steht: "This is not Santa."

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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