Vor mehr als 20 Jahren hat Manuela Thoma-Adofo festgestellt, dass sie ein besonderes Talent besitzt: Sie hält es aus, Menschen beim Sterben zu begleiten. Damals besuchte sie ehrenamtlich Bewohner eines Seniorenheims und las ihnen vor. Sie hielt die Hand einer älteren Dame, gleichzeitig stillte sie ihren Sohn, als die Frau plötzlich immer schwächer atmete und schließlich ganz damit aufhörte. "Ich habe mich nicht eine Sekunde erschreckt", sagt Thoma-Adofo. Viel mehr sei ihr bewusst geworden, dass das Leben ein Kreislauf ist, zu dem die Geburt ebenso wie der Tod gehört. Seitdem ist Thoma-Adofo ehrenamtliche Sterbebegleiterin - zuerst im Schwarzwald, dann in Zorneding und seit 2006 in Kirchheim, wo sie auch zu Hause ist. Über ihre Erfahrungen hat die 51-Jährige ein Buch geschrieben. Es heißt "Auf dem Weg, den niemand kennt" und ist Ende April im Kösel-Verlag erschienen. Diesen Mittwochabend liest sie daraus zum ersten Mal im Kirchheimer Seniorenzentrum vor, wo sie sonst Bewohner in ihren letzten Stunden begleitet.
SZ: Was ist so schön daran, Menschen beim Sterben zuzusehen, dass sie seit 1996 den größten Teil ihrer Freizeit damit verbringen?
Thoma-Adofo: Ich mache sehr gerne Geschenke. Ich kann den Patienten keine Zeit mehr geben, aber wir können sie bis zuletzt so schön wie möglich gestalten. Wir feiern gemeinsam noch einmal das Leben.
Wie sieht das aus?
Zum Beispiel nannte mir ein Patient in einer Nacht drei Wünsche: Spare Ribs, Bier und eine Zigarre. Wir haben alles besorgt. Er konnte nicht mehr kauen, also haben wir ihm die Spare Ribs über die Zunge gezogen. Er konnte nicht mehr schlucken, also haben wir ihm das Bier tropfenweise mit einem Strohhalm eingeflößt. Den Rauch der Zigarre habe ich ihm bloß ins Gesicht gepustet, weil er selbst keine Kraft mehr hatte, daran zu ziehen. Am Morgen um kurz vor sieben ist er gestorben. Aber davor hat er noch einmal gelebt.
Das klingt wie im Film.
Es herrscht nicht immer so eine große Harmonie. Viele Situationen sind grauenvoll. Ich habe einen Patienten begleitet, der nie Besuch bekam. Nur einmal kam ein Mann in den Fünfzigern, setzte sich an sein Bett und sagte: "Vater, ich bin nur gekommen, um zu sehen, wie du endlich verreckst." Dann stand er auf, nahm seinen Mantel und ging. Hinterher schrieb er mir noch einen Brief, in dem er erklärte, dass sein Vater verantwortlich für den Selbstmord seiner beiden Schwestern und seiner Mutter ist. In solchen Momenten bin ich froh, dass ich das Leben meiner Patienten oft nicht kenne. So urteile ich auch nicht darüber.
Fällt es Menschen schwerer zu sterben, wenn es solche Konflikte gibt?
Dieser Mann ist ganz sanft gestorben. Aber ich empfinde es tatsächlich so, dass alles, was die Ruhe stört, das Sterben verzögert. Das Gehör ist das Letzte, was geht. Deshalb sage ich zu Angehörigen immer, dass sie aufpassen sollen, was sie sagen. Ich habe erlebt, dass Patienten in ihrer letzten Phase noch einmal unruhig werden, wenn die Kinder am Bett streiten oder wenn Angehörige klammern. Es ist viel leichter, wenn sie sagen: Du kannst gehen.
Woran erkennt man denn, wenn die letzten Stunden gekommen sind?
Die Phase beginnt, wenn der Patient nicht mehr ansprechbar, aber gleichzeitig sehr aktiv ist. Er greift dann oder lacht - so wie ein Kind, das stark träumt. Vielleicht ist derjenige gerade noch einmal auf seinem Schulweg, vielleicht bekommt er seinen ersten Verweis oder ist verliebt. Wir wissen es nicht. Dann hört er plötzlich damit auf. Die Atmung wird erst stärker. Es ist ein richtiges Luftholen. Und dann wird der Atem immer ruhiger. Oft sind die Augen dann noch geöffnet, aber sie reagieren nicht mehr. Es ist, als würden sie in eine andere Welt schauen.
Wie hat es sie persönlich verändert, so viele Menschen sterben zu sehen?
Ich schiebe heute nur noch wenig auf, weil ich weiß, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Ich habe keine Scheu mehr, Menschen anzusprechen. Wenn ich denke, dass jemand ein schönes Lächeln hat, dann sage ich es demjenigen auch. Genauso wenn ich finde, dass sich jemand wie ein Idiot verhalten hat. Nur so hat er die Chance, etwas besser zu machen.
Welcher ihrer Patienten ist ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Eine meiner liebsten Patientinnen ist die Mutter meines Lebensgefährten. Sie ist in unseren Armen gestorben. Es war ganz klar, dass sie uns zusammenbringen wollte. Sie legte ständig unsere Hände aufeinander. Danach wurden wir ein Paar und haben ihr wohl ihren letzten Wunsch erfüllt.
Beginn der Lesung im Collegium 2000 ist um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.