Kirchheim:Damals wie heute

Lesezeit: 2 min

Lehrerin Angelika Matzke (links) und die Schülerinnen Maria Zegrea und Hannah Kurth haben sich in der Politik-AG der DDR-Thematik angenähert. (Foto: Angelika Bardehle)

Wie zwei Gymnasiastinnen über die Ereignisse von 1989 denken und welche Parallelen sie etwa zur "Fridays for Future"-Bewegung sehen

Von Julia Fietz, Kirchheim

Weinende Ost- und Westberliner liegen sich in den Armen, jubelnde Menschen tanzen auf und neben der Mauer, Trabis fahren mit einem Hupkonzert gen Westen. Mit Hammer und Meißel wird die deutsch-deutsche Grenze eingerissen. Wer die Ereignisse des 9. November 1989 miterlebt hat, wird auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch emotional angesichts der Bilder, die jedes Jahr aufs Neue im Fernsehen gezeigt werden. Nachfolgenden Generationen kamen in einem geeinten Land zur Welt. Das macht es nicht leicht, etwa im Schulunterricht die gesamte emotionale und historische Tragweite des Mauerfalls zu erfassen.

Tania Maria Zegrea und Hannah Kurth sind Schülerinnen der 11. Klasse am Gymnasium Kirchheim und seit diesem Schuljahr in der neu gegründeten Politik-AG. Diese ist auf den Wunsch von Schülern entstanden, die sich am Modell "Europa Parlament" beteiligt hatten, einem Planspiel, bei dem Jugendliche aus ganz Deutschland in Berlin die Rolle von Europaabgeordneten einnehmen und eine Sitzung im EU-Parlament simulieren. Die Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft planen für ihre Mitschüler ein Projekt zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Sie sollen nachfühlen können, welchen Kontrollen und Einschränkungen sich DDR-Bürger im Alltag ausgesetzt sahen.

Der DDR sind Tania und Hannah im Geschichtsunterricht und auf einer Klassenfahrt nach Berlin nähergekommen. Die Unterschiede im Alltagsleben der beiden deutschen Republiken kennenzulernen, das war für die Jugendlichen besonders einprägsam. "Vieles hat man schon von Eltern und Großeltern gehört, da ist es interessant, mehr über die Hintergründe zu lernen", sagt die 16-jährige Hannah. Ihre Familie stammt aus Sachsen, die Mutter wuchs auf einem Bauernhof auf. Luxusgüter wie Südfrüchte oder Schokolade waren Mangelware. "Eine Orange zu Weihnachten war etwas ganz Besonderes", hat die Schülerin aus Erzählungen erfahren. Heute gehe sie einfach in den Supermarkt.

Tanias Familie kommt hingegen ursprünglich aus Rumänien. Ihre Mutter hat die Revolution von 1989 miterlebt, bei der Diktator Nicolae Ceauşescu hingerichtet wurde. In den Zustand der Trennung von Ost und West im eigenen Land könne sie sich nicht mehr so richtig einfühlen, sagt die 17-Jährige nachdenklich. Umso mehr Eindruck hätten ihre Lehrer auf die beiden gemacht, als sie die DDR und den Mauerfall im Unterricht behandelten. Die Thematik sei den Lehrern sichtlich nahe gegangen, erzählt Hannah. Deswegen sei das Interesse von Seiten der Schülerschaft auch besonders groß gewesen. Im vergangenen Schuljahr ging es für Tanias und Hannahs Jahrgangsstufe nach Berlin, wo unter anderem ein Besuch des ehemaligen Stasigefängnisses Hohenschönhausen auf dem Plan stand. Dort führen Zeitzeugen die Besuchergruppen durch die langen, dunklen Gänge, zeigen Gummizellen und berichten von ihren eigenen Hafterfahrungen. Dass diese auch nach Jahren noch deutliche Spuren hinterlassen haben, fiel beiden Schülerinnen auf. "Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er den Schmerz von damals in Zynismus oder Sarkasmus umwandeln musste, um überhaupt darüber reden zu können", sagt Hannah über ihren Fremdenführer.

Die Bilder der großen Demonstrationen vor dem Mauerfall verfehlen auch bei Hannah und Tania ihre Wirkung nicht. Beide sind tief beeindruckt von der Massenbewegung, die sich 1989 herauskristallisierte und ihre ganze Kraft im Herbst entfaltete. "Daran kann man doch sehen, dass Demonstrationen etwas bringen und etwas bewegt werden kann, wenn sich der Großteil der Leute auflehnt", findet Hannah und verweist auf die "Fridays for Future"-Bewegung. Diese sei vergleichbar mit dem Auflehnen 1989.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: