Ismaning:Gesichter, der Zeit entrissen

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Doris Maiximiliane Würgert ist die diesjährige Kallmann-Preisträgerin. Sie zeigt in ihrer Ausstellung fotografische Porträts in Gummidruck und ein Reisevideo aus Japan

Von Franziska Gerlach, Ismaning

Es ist ein ganz normaler Stuhl, den Doris Maximilane Würgert da porträtiert hat. Weiß, aus Plastik vermutlich, mit einer schmalen Lehne für die Arme. Ein Stuhl, wie er in Lehrerzimmern steht, in Sekretariaten oder auf den Fluren von Krankenhäusern. "Der hier stand im Deutschen Museum", sagt Würgert. Das großformatige Bild, das die Künstlerin auf Basis einer Fotografie geschaffen hat, zeigt nun bis zum 23. Februar 2020 eine Ausstellung mit dem Titel "Blurred Memory" im Kallmann-Museum in Ismaning.

Künstlerin Doris Maximiliane Würgert (Mitte), Gewinnerin des Kallmann-Preises 2019, mit Museumsleiter Rasmus Kleine (links) und Luca Daberto (rechts) in der Ausstellung "Blurred Memory". Das großformatige Porträt zeigt Daberto, einen Mitarbeiter des Kallmann-Museums. (Foto: Catherina Hess)

Denn Würgert ist die diesjährige Preisträgerin des Kallmann-Preises, der 2019 das zweite Mal vergeben wurde. Ausgelobt wurde der Wettbewerb in der Kategorie "Porträt", mehr als 300 Künstler hatten ihre Bewerbung eingereicht. Und weil das Porträt auch im Werk von Hans Jürgen Kallmann von großer Bedeutung ist, zeigt das Museum gleichzeitig etwa 30 Arbeiten des Malers. Kallmann starb 1991, tragischerweise ein Jahr, bevor das ihm gewidmete Museum in Ismaning eröffnete. Bereits in der Zwanzigerjahren, so erläuterte Museumsleiter Rasmus Kleine den Gästen der Vernissage am Freitagabend, habe Kallmann Schauspieler und Schauspielerinnen für Zeitungen porträtiert. Damit habe er sein erstes Geld verdient. Später kamen nicht nur schlafende Kinder und Mütter in Tibet hinzu, sondern auch etliche Prominente aus der Politik: Franz Josef Strauß hatte Kallmann im Profil erfasst, ebenso Papst Johannes XXIII., den er 1959 in Öl verewigte. Konrad Adenauer blickt einem dagegen direkt in die Augen, es ist ein intensiver Blick. Ein Blick, dem man am liebsten ausweichen möchte - selbst wenn mittlerweile mehr als fünf Jahrzehnte vergangen sind, seit Kallmann den ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland porträtierte. Neben den Porträts in Öl oder Pastellkreide umfasst die Schau auch Landschaftsmalereien, denen sich der Künstler neben dem Tierbild und dem Porträt gerne widmete - etwa einen beschaulichen Winterbach. Bei seinen Porträts ging es Kallmann laut Museumsleiter Kleine vor allem um eines: "Er war letztlich immer daran interessiert, dem Menschen nahe zu kommen."

Ismanings Altbürgermeister Michael Sedlmair, Vorsitzender der "Professor Hans Jürgen Kallmann-Stiftung", bei der Vernissage. (Foto: Catherina Hess)

Und Würgert? Die 1960 geborene Künstlerin, die seit 2007 an der Akademie der Bildenden Künste in München lehrt, hat sich natürlich nicht nur Stühlen oder Vasen - und: eigens für die Ausstellung - Gegenständen des Ismaninger Museumsdepots angenommen. Auch Würgert porträtiert Menschen, allerdings auf ihre Art. Sorgenfalten. Ein Lächeln. Augen, die strahlen, die etwas preisgeben über die Stimmung des Moments, als der Fotograf den Auslöser drückte - nichts davon gibt es bei Würgert. Über ihren Porträts, zwei auf 1, 75 Meter groß und aus der Frontale aufgenommen, liegt eine gespenstische Ruhe. Jede Kontur, jede Identität ist aus den Gesichtern entwichen - ein deutlicher Gegensatz zur hedonistischen Selbstinszenierung eines Selfies. Gummidruck nennt sich das alte Edeldruckverfahren, bei dem die Fotografien mit einer Lösung bestrichen und lange belichtet werden. Der Effekt: Die Gesichter wirken der Zeit entrissen, irgendwie alterslos. Gerade diese malerische Unschärfe ist es, die den Betrachter herausfordert. Er kann sich tatsächlich einlassen auf die Gesichter - denn da ist nichts, was ablenkt. "Die Arbeitsanweisung war, geradeaus zu schauen, durch mich hindurch", sagt Würgert mit Blick auf das Bild eines Mannes. Es ist Luca Daberto, ein Mitarbeiter des Kallmann-Museums. War das nicht schwierig, die Kamera so nahe an sich heranzulassen? "Nein", sagt der vor Kallmanns Papst-Porträt stehend, das sei ziemlich schnell passiert.

Neben Würgerts Fotografien präsentiert das Kallmann-Museum nun außerdem ein ausgesprochen spannendes Video. Es ist vor mehr als 15 Jahren auf einer Japan-Reise entstanden, als die Künstlerin ihre Videokamera wie eine Handtasche mit sich durch Tokio trug - und durch diese Absichtslosigkeit eine Nähe erzeugte, die die Dramaturgie dem Betrachter oft verwehrt. Dass allerdings auch Archivschränkchen das Potenzial zum Porträt haben, daran wird sich mancher erst gewöhnen müssen. Für Museumsleiter Kleine sind Würgerts in Ismaning entstandene Arbeiten freilich "keine nüchternen Aufnahmen" eines Museumsdepots, wie er sagte: "Sie tragen vielmehr ein Geheimnis in sich." Lässt man sich darauf ein, können Porträts von Gegenständen ebenfalls Geschichten von Menschen erzählen. So berichtet der Stuhl von dem Museumswärter, der auf ihm saß. Oder der Tisch einer Lehrerin, die daran Aufsätze korrigierte. Die so entstandene Erinnerung ist dann womöglich verwaschen, angereichert um die Assoziationen des jeweiligen Betrachters. Doch Würgerts Ausstellung trägt schließlich den Titel "Blurred Memory". Zu Deutsch: "Verschwommene Erinnerung."

© SZ vom 16.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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