Ismaning:Der Fotograf mit dem Hundeblick

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Der Garchinger Herbert Becke geht mit seiner Kamera zu Boden, um München aus einer ungewöhnlichen Perspektive aufzunehmen - der des Underdogs. In Ismaning zeigt er eine Gesamtschau dieses Projekts

Von Udo Watter, Ismaning

Kleine Veränderungen der Perspektive zeitigen oft große Wirkung. In dem Film "Club der toten Dichter" fordert etwa der von Robin Williams gespielte Lehrer in der ersten Unterrichtsstunde die Schüler dazu auf, einmal auf die Tische zu steigen, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen - eine Szene, die sich am Ende wiederholt und Filmgeschichte geschrieben hat. Klingt gar nicht so spektakulär, doch Detailverschiebungen, der (visuelle) Ausbruch aus dem Alltäglichen öffnet eben auch Erkenntnispforten, die weit übers Optische hinausgehen und eine Bresche in den gewohnten Gang der Wirklichkeit schlagen können.

Der in Garching lebende Fotograf Herbert Becke ist nicht nach oben gestiegen, sondern nach unten gegangen, um sein Projekt "München - bodenständig" zu realisieren. In den vergangenen Jahren hat er sich immer wieder mit der Kamera auf den Boden gelegt, auf öffentlichen Plätzen, in U-Bahnhöfen oder auf dem Asphalt von Einkaufsstraßen, er hat quasi die Perspektive von Kleinkindern, Hunden und Mäusen eingenommen oder auch Turnschuhen, wenn die denn Augen hätten. Der gebürtige Münchner, der 33 Jahre lang Leiter der VHS München-Nord war, hat zahlreiche Exponate schon in den vergangenen Jahren auf Ausstellungen gezeigt, im Valentin-Karlstadt-Musäum oder im Bürgerhaus Unterschleißheim. Jetzt freilich ist das Projekt vollendet und im Ismaninger Kultur- und Bildungszentrum Seidl-Mühle ist die erste Gesamtschau von "München - bodenständig" zu sehen: hundert Bilder, die über drei Stockwerke verteilt sind, darunter neuere Fotografien aus der Maximilianstraße. Becke, der als Einführung auf der Vernissage ein Frage-Antwort-Spiel mit VHS-Leiter Lothar Stetz inszenierte, dankte den Organisatoren: "Die Bilder wirken toll durch die Räumlichkeiten hier."

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(Foto: Herbert Becke)

Münchner Perspektiven, etwas anders: Montgelas-Denkmal am Promenadeplatz,...

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(Foto: Herbert Becke)

...ein Zamperl im Hofbräuhaus,...

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(Foto: Becke Herbert; herbert becke)

...ein Luftschacht vor dem Armani-Laden in der Maximiliansstraße.

Freilich sind die Fotografien von Becke, der unter anderem mit dem Tassilo-Kulturpreis des SZ ausgezeichnet worden ist, unabhängig vom Ambiente echte Blickfänger, ohne unter Hochglanz-Verdacht zu fallen. "Ich habe schon immer eine eigene Sicht auf die Dinge gehabt", sagt Becke, eine Sicht, die er mit "bizarr-ästhetisch" umschreibt, die auch Motive am Rande integriert. So werden durch die ungewöhnliche Perspektive, meist aufgenommen mit einer einfachen Kamera und extremem Weitwinkel, Objekte teils riesig. Überdimensionale Kanaldeckel sind kontrastiv gesetzt zum Schloss Nymphenburg, Fugendehnungen vor blau illuminierter Allianzarena wirken wie Trambahnschienen, Kleines wird groß, Großes seiner Bedeutungsschwere entkleidet, Sitze im U-Bahnhof zu Designer-Formaten, Strukturen entfalten Sogwirkung, regen die Fantasie an, oder man kann sich auf Augenhöhe mit einem Hund begeben. Dass eine Zeitung zu Beckes Ausstellung einmal "Aus der Zamperl-Perspektive" schrieb, fand indes Lothar Stetz "zu verniedlichend". Und auch Becke betonte, dass ihn "nicht nur die räumliche, sondern auch die soziale Perspektive" bewege. Seine Bilder erzählen Geschichten, er setzt Menschen, Objekte, Gebäude in Bezug zueinander. Urbane Glanz- und Schaustücke werden kontrastiert mit weniger Vorzeigbarem, nicht so gut situierte Menschen in wohlhabender Umgebung gezeigt, die farbige, auffällig saubere Welt der Münchner U-Bahnhöfe originell komponiert, der Jakobsplatz mit der Synagoge taucht immer wieder als Sujet auf. Der Fotograf arrangiert zwar nichts, er geht nach der Maxime vor "Das Leben posiert nicht, es findet statt", aber ganz ohne künstlerische Vorstellung machte er sich nicht auf die fotografische Pirsch. "Man muss sich schon vorher was überlegen." Die nachträgliche Bildbearbeitung ist allenfalls marginal, mitunter gilt es, ein wenig nachzuschärfen oder einen Kontrast anzuheben.

Dass Becke während seiner jahrelangen horizontalen Erkundungen nicht nur neue Perspektiven der Weltaneignung gewonnen hat, sondern auch manch erzählenswerte Erlebnis hatte, verwundert nicht. Der Mann einer Frau, deren Fuß, respektive Schuh er aus Bodenperspektive einfing, wollte sich gleich als Beschützer zeigen und Becke musste ihm klar machen, kein Lustmolch mit Kamera zu sein. Ein anderes Mal stellten ihn Zivilpolizisten zur Rede, weil er auffällig lange vor einem Geldautomaten lag. Das Fotografieren in der Maximilianstraße gestaltete sich generell schwer, da Security-Leute der Edelshops oft intervenierten. Und einmal wurde der auf das richtige Motiv wartende Becke überrascht, als sich die Tür der eingefahrenen U-Bahn öffnete und er im Liegen über sich die Stimme einer Bekannten hörte: "Herr Becke, was machen Sie da unten?"

Die Ausstellung "München - bodenständig" im Kultur- und Bildungszentrum Seidl-Mühle, Ismaning, dauert bis zum 24. Februar.

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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