Internet-Lesung:Die Zaubermacht, mühelos durch Wände zu gehen

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Thomas Ritter hat die Theatergruppe vor zehn Jahren für neue Ausdrucksformen geöffnet. (Foto: Angelika Bardehle)

Die Oberstufentheatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums Haar beteiligt sich an einer 24-Stunden-Lesung aus dem Buch des Schriftstellers Ahmet Altan, der in einem türkischen Gefängnis sitzt. Seine Worte vermitteln Monotonie und Trauer des Alltags, aber auch Lichtblicke

Von Anna-Maria Salmen, Haar

An einem Septembermorgen um 5.42 Uhr wird der türkische Schriftsteller Ahmet Altan jäh vom Geräusch der Türklingel aus dem Schlaf gerissen. Die Polizei, das weiß er sofort. "Wie alle Oppositionellen in meinem Land ging ich jede Nacht ins Bett in der Erwartung, dass im Morgengrauen an meiner Tür geläutet würde", beschreibt er seine Befürchtungen. Die Beamten der Einheit für Terrorbekämpfung bringen ihn in das Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Seit mehr als vier Jahren sitzt Altan dort in Einzelhaft - die türkische Justiz wirft ihm vor, in einer Fernsehsendung "unterschwellige Botschaften" über den Putschversuch im Jahr 2016 verbreitet zu haben. Mittlerweile wurde der Schriftsteller zu lebenslanger Haft verurteilt.

In seiner Gefängniszelle hat Altan ein Buch geschrieben: "Ich werde die Welt nie wiedersehen". Um auf die Situation des Autors und anderer aus umstrittenen Gründen Inhaftierter aufmerksam zu machen, haben Schülerinnen und Schüler der Oberstufentheatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums Haar gemeinsam mit Theaterschülerinnen aus ganz Deutschland am Wochenende einen digitalen Lesemarathon veranstaltet. Beginnend am Freitagabend trugen sie per Videokonferenz 24 Stunden lang ununterbrochen Passagen aus Altans Werk vor.

Brot vom Bäcker holen, einen Baum betrachten, Spiegeleier verspeisen, eine Tür öffnen - für die meisten Menschen sind das alltägliche Verrichtungen. Für Altan jedoch sind all das Dinge, die er wohl nie wieder erleben kann. "Von nun an würden andere entscheiden, was ich zu tun hätte, wo ich mich aufhalten und wo ich schlafen sollte, wann ich aufstehen müsste und was mein Name sein sollte. Ich würde unentwegt Befehle empfangen", schreibt er in seinem Buch. Sein Essen kommt durch eine Klappe in der Tür, der kleine Hof, in dem er spazieren geht, ist mit Eisengitter gedeckt. Sogar Nachrichten an seine Liebsten zu schreiben, ist verboten.

Altan jedoch verzweifelt angesichts der beklemmenden Umstände jedoch nicht. "Ich bin Schriftsteller", schreibt er. "Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten, weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist: Ich kann mühelos durch Wände gehen."

Es waren eindringliche Sätze, die die Jugendlichen im Verlauf der Lesung immer und immer wieder vortrugen. Thomas Ritte, Leiter der Theatergruppen am Haarer Gymnasium hatte zunächst eine klassische Aufführung zu Altans Werk geplant, Corona allerdings machte die Pläne zunichte. Mit dem digitalen Lesemarathon wollten die Schüler Altans Haftbedingungen auf andere Weise erlebbar machen. "Er muss ja jeden Tag die Situation eingesperrt zu sein, über sich ergehen lassen", so Ritter. "Da können wir es ja wohl schaffen, 24 Stunden lang zu lesen." Bewusst habe man sich entschieden, die immer gleichen Passagen vorzutragen: Anfang und Schluss aus Altans Buch. Die ständige Wiederholung sollte die Monotonie des Alltags in der Haft verdeutlichen.

Dennoch vermittle der Text auch Lichtblicke, wie Ritter sagte. Beispielsweise in Sätzen über die Sonnenstrahlen, die "wie glänzende Speerspitzen" durch das eiserne Gitter auf sein Kissen fallen, oder über das Vogelgezwitscher vor dem Fenster, das er morgens hört. Wie viele Zuschauer die Lesung im Verlauf der 24 Stunden verfolgt haben, konnte Ritter nicht genau sagen. Für ihn und seine Schüler war ein großes Publikum nie das Hauptziel des Projekts. "Mögen auch mal eine Zeitlang wenige oder keine Zuschauer dabei gewesen sein, dann haben wir das trotzdem für uns und in Erinnerung für den Menschen gemacht, der da momentan inhaftiert ist." Das ungewohnte Format sorgte zu Beginn für Unsicherheiten, wie der Lehrer erzählte. "Es ist schon anstrengend: Man sieht das Publikum und seine Mitspieler nicht. Die Schüler sind ja keine Profis und für sie ist es eine große Herausforderung, in die Kamera zu reden."

Gelohnt hat sich das Projekt für Ritter in jedem Fall. "Es ist schon enorm, mit welcher Willkür Menschen in manchen Ländern wegen politischer Äußerungen eingesperrt werden", sagte der Lehrer. "Das hat mich und die Schüler sehr schockiert und traurig gemacht." Umso mehr freute sich das Ensemble darüber, dass Ahmet Altan in seiner Zelle in der Türkei über eine enge Vertraute, die in Verbindung mit Ritter steht, von der Lesung erfahren hat. "Das rührt uns sehr. Vielleicht wird uns sogar eine Reaktion übermittelt."

© SZ vom 13.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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