Hohenbrunn:Eine Stimme für Menschen mit Handicap

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Der Landkreis München hat sich das Ziel gesetzt, die Inklusion voranzutreiben. In Hohenbrunn tragen die Bemühungen nun erste Früchte: In der Gemeinde soll ein eigener Behindertenbeirat eingerichtet werden. Ganz ohne Widerstand fiel diese Entscheidung allerdings nicht

Von Claudia Engmann, Hohenbrunn

Von den 330 000 Einwohnern des Landkreises München leben nach offiziellen Angaben knapp 31 000 mit einer Behinderung - das ist fast jeder Zehnte. Damit sie ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich gestalten können, hat der Landkreis im Juli vergangenen Jahres einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention initiiert. Ziel ist die Inklusion, also die vollumfängliche Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft von Anfang an. Während landkreisweit eine Reihe von Arbeitskreisen Ideen und Konzepte erarbeitet, gibt es in Hohenbrunn ein erstes konkretes Ergebnis: Auf Antrag der Grünen wurde dort, wenn auch mit knapper Mehrheit, ein Behindertenbeirat beschlossen.

Gudrun Tomlinson, Mutter einer behinderten Tochter aus Hohenbrunn, freut sich darüber. Sie vermutet, dass es in ihrer Heimatgemeinde neben den vom Bürgermeister genannten über 500 Personen mit Behinderung bei 8500 Einwohnern noch einmal so viele Gehandicapte gibt, die keinen Schwerbehindertenausweis haben. Hinzu kämen außerdem noch die Menschen, die beispielsweise nach einem Unfall zeitweise eingeschränkt seien. Ihre inzwischen 18-jährige Tochter mit Down-Syndrom wurde einst als erstes behindertes Kind in den Hohenbrunner Kindergarten aufgenommen: ein unschätzbares Entgegenkommen der Leiterin für die Familie zu einer Zeit, in der es noch keinen integrativen Kindergarten gab. Jetzt geht die Tochter zur Schule, dreimal am Nachmittag hilft sie als Praktikantin in der Küche einer Neubiberger Kinderkrippe mit. Dann steht das Thema Berufsfindung an.

Auf Landkreisebene gibt es seit 2012 einen Behindertenbeirat. (Foto: Claus Schunk)

Gudrun Tomlinson lobt die Zusammenarbeit mit Bürgermeister Stefan Straßmair (CSU) und der Gemeinde, sieht allerdings auch deren Grenzen: Der Bürgermeister sei sehr aufgeschlossen, immer ansprechbar und bemühe sich, zu helfen. Bei dem Umfang der Aufgaben eines Behindertenbeirates und möglichen Betätigungsfeldern erklärt sich ihrer Meinung nach aber von selbst, dass ein Verwaltungschef diese Aufgaben nicht alleine erledigen könne. Und auch ein Seniorenbeirat könne vermutlich bei vielen Themen, die Kinder und junge Menschen betreffen, nicht weiterhelfen - wie beispielsweise bei Fragen nach einem Kindergarten, der Freizeitgestaltung, nach Arbeit und Beruf.

Für Tomlinson liegen die Vorteile eines Behindertenbeirates klar auf der Hand: Als Betroffene ist sie, wie auch noch weitere Hohenbrunner, durch ihre Situation zur Expertin geworden. Sie nimmt selber an den Diskussionen zur Umsetzung der UN-Konvention teil und ist im Landkreis auch in Selbsthilfegruppen gut vernetzt. Sie ist ortskundig, kennt und versteht durch die eigenen Erfahrungen die Sorgen der Menschen mit Behinderung.

Sie hat bereits viele Ideen: So könnte ein Behindertenbeirat unbürokratisch bei Behördengängen und Anträgen auf Hilfsleistungen helfen, er könnte Ansprechpartner zum Beispiel für junge Familien sein, die sich überlegen, nach Hohenbrunn zu ziehen, und wissen möchten, welche Betreuungs- und Freizeitmöglichkeiten bestehen. Weitere mögliche Aufgabenfelder sieht sie darin, neue Wege der inklusiven Freizeitgestaltung zu entwickeln, einen Helferkreis mit einem Pool von Freiwilligen und Paten aufzubauen, die Teilnahme an Events wie Weihnachtsmarkt und Dorffesten zu organisieren und Kontakte zu Firmen am Ort herzustellen, um Berufspraktika für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen.

Ein großes Thema ist auch die Mobilität: Ein Behindertenbeirat würde sich für Barrierefreiheit im Ort und am S-Bahnhof einsetzen. Derzeit ist etwa der Hohenbrunner Bahnsteig nur über eine Treppe zu erreichen. Dieses Thema betrifft nicht nur Rollstuhlfahrer, Blinde und Sehbehinderte oder Menschen mit Hörbehinderung, sondern auch Eltern mit Kinderwagen. Sie alle würden von der Barrierefreiheit profitieren.

In einer Stellungnahme begrüßte Hohenbrunns Verwaltung ausdrücklich das Ansinnen, die Belange behinderter Menschen zu berücksichtigen, und verwies darauf, dass in Hohenbrunn der erste Integrationskindergarten im weiteren Umkreis eröffnet worden sei. Auch die Krippe bietet Integrationsplätze an. Ebenso würden sämtliche Liegenschaften barrierefrei ausgebaut. Es stelle sich allerdings die Frage, ob für eine Gemeinde der Größenordnung Hohenbrunns ein eigener Behindertenbeirat erforderlich und sinnvoll sei. Auch sei nicht ausreichend Personal vorhanden, um einen weiteren Beirat arbeitstechnisch und organisatorisch zu betreuen.

Aleksandar Dordevic, Behindertenbeauftragter im Landratsamt, kennt diese Ängste. In der Anfangsphase gebe es immer Befürchtungen, sagt er, da die Politik sich schwer tue mit Gremien und deren Legitimation. Am Beispiel Garchings habe sich aber gezeigt, dass sich diese Sorgen schnell auflösen. Dort sei man froh um engagierte Menschen, die beispielsweise bei Bauprojekten und Planungen beraten. Hier zeige sich auch, dass nur wirklich Betroffene beurteilen können, ob ein abgeflachter Bürgersteig für einen Rollstuhl problemlos zugänglich ist oder nicht. Dordevic würde sich wünschen, dass alle Verwaltungen im Landkreis so ein Gremium ehrenamtlich Tätiger als Bereicherung empfinden. Auch sei die Gemeinde besser abgesichert, wenn sie den Rat beteilige. Er begrüßte Hohenbrunns Rolle als Vorreiter.

Weitere Informationen gibt es unter aktionsplan.landkreis-muenchen.de. Hohenbrunner, die Ideen und Vorschläge für die Satzung des Beirates einbringen und sich als Mitglied zur Verfügung stellen möchten, können sich an das Rathaus sowie die Grünen unter gruene@wschmidhuber.de wenden.

© SZ vom 08.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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