Hohenbrunn:Anschwimmen gegen die Angst

Lesezeit: 4 Min.

Ein Viertel der Erwachsenen kann sich nicht sicher im Wasser fortbewegen. Oft liegt der Grund in schlechten Erfahrungen in der Kindheit. Im Riemerlinger Hallenbad schafft Jerzy Sonnewend mit Kursen Abhilfe

Von Christina Hertel, Hohenbrunn

Das Wasser geht Susan Odoki gerade mal bis zur Brust. Sie sitzt im Nichtschwimmerbecken auf einer Stufe am Rand des Riemerlinger Hallenbads. Ein Becken weiter springen die Menschen ins Wasser. Es pflascht, alle lachen, es ist warm, riecht nach Chlor - Schwimmbad eben. Und Susan Odoki sitzt einfach nur da. Überlegt: Weiter rein? Sitzen bleiben? Wieder raus? Eigentlich heißt Susan Odoki anders, doch ihren echten Namen möchte sie lieber nicht verraten. Sie will nicht, dass sich ihre Kinder für sie schämen. Denn gerade lernt sie zusammen mit einer Freundin das, was die meisten eigentlich beigebracht bekommen, wenn sie jung sind: Schwimmen.

Als Kind, wenn der Vater Susan Odoki bestrafen wollte, wenn sie frech war oder zu spät nach Hause kam, kippte er ihr einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Und weil das Wasser im Schwimmbad auch immer so kalt war, ging sie nie mit - es erinnerte sie zu sehr die Strafe ihres Vaters. Das alles ist viele Jahre her, passierte auf einem anderen Kontinent, in Uganda in Ostafrika. Inzwischen ist Susan Odoki eine erwachsene Frau, hat selbst drei Kinder. Doch die Angst vor dem Wasser ist geblieben.

Für Nichtschwimmer ist die Bahn ziemlich lang. (Foto: Christina Hertel)

Sie fühlt sich in dem Hallenbad nicht besonders wohl, das sieht man gleich. Dabei geht es ihr wie vielen Menschen in Deutschland. Laut der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DRLG) kann ein Viertel der Erwachsenen nicht oder nur schlecht schwimmen. In Zukunft könnten diese Zahlen steigen: Jeder zweite Zehnjährige, der die Grundschule verlässt, ist im Wasser nicht sicher. Und ein Viertel der Grundschulen haben der DRLG zufolge keinen Zugang zu einem Schwimmbad. Die Riemerlinger Haie haben das erkannt und bieten seit gut einem Jahr Nichtschwimmerkurse für Erwachsene an, immer donnerstags von 19 Uhr an im Hohenbrunner Hallenbad. Dazu kommen kann jeder, auch ohne Anmeldung. Die meisten, die an dem Kurs teilnehmen, sind nicht in Deutschland aufgewachsen. Sie kommen aus China, Irak, Uganda, Rumänien, Indien. Und Jerzy Sonnewend, der Schwimmlehrer, 68 Jahre alt, stammt aus Polen. Er flüchtete Ende der Achtzigerjahre nach Deutschland. Vorher arbeitete er als Journalist, schrieb etwas, dass der Regierung nicht gefiel. Plötzlich stand das Auto seiner Frau in Flammen, erhielt er Drohungen.

Jerzy Sonnewend weiß, wie es ist, sich in Deutschland fremd zu fühlen. Und er weiß, wie es ist, etwas zu lernen, das scheinbar alle können. Auch er konnte bis 14 nicht schwimmen, bis es ihm ein Freund zeigte. Am Anfang schämte sich Sonnewend, dann packte ihn der Ehrgeiz und er wurde sogar ziemlich gut: Als Mitglied der polnischen Nationalmannschaft, erzählt er, hätte er beinahe mit zu den Olympischen Spielen nach Mexiko gedurft.

Doch dann wurde er krank und danach nie mehr so fit. Sonnewends Schüler sollen zuerst auf dem Rücken schwimmen - so lernte er es damals auch. Doch seinem Rat folgen nicht alle: Eine Rentnerin aus Neubiberg, die ihren Namen auch nicht in der Zeitung lesen möchte, probiert gleich Brust. Schließlich hätten früher alle Kinder so Schwimmen gelernt. Die Frau hat schon ein paar Stunden hinter sich, kommt ganz gut voran im Wasser. Sonnewend steht am Beckenrand und schaut zu. Ihm macht es nichts aus, wenn die Teilnehmer ihren eigenen Kopf haben. Er will sie nicht unter Druck setzen, zu nichts zu zwingen. Und weil Sonnewend immer so geduldig ist, hat die Neubiberger Rentnerin ein Geschenk für ihn mitgebracht: einen kleinen Hasen aus Schokolade. "Weil Sie mich so schwimmen lassen, wie ich möchte." "Die Deutschen", sagt der Schwimmlehrer dazu bloß, "haben ein Problem: Sie denken immer, sie haben Recht." Er meint das als Scherz, man sieht, wie er sich über das Geschenk freut. Ihm ist das Wichtigste, dass seine Schüler die Angst verlieren. Das sagt er immer wieder. "Denn jeder hier hat seine Geschichte mit dem Wasser."

Sicher Schwimmen: Nach Kursende will Irene Platzer (links) die Bahn ohne Probleme absolvieren. Neben ihr eine Frau aus Irak mit Tochter. (Foto: Christina Hertel)

Irene Platzer hat eine Schwimmnudel um den Hals und Flossen an den Füßen. Sie schwimmt auf dem Rücken, so wie es ihr Sonnewend erklärt hat. Langsam und ganz nah am Beckenrand. Immer wieder hält sie sich fest. Platzer ist Rentnerin, hat pinke Nägel und goldene Ringe an den Fingern. Sie wirkt nicht so, als wäre es ihr unangenehm, hier zu sein. Eigentlich sieht sie fast ein bisschen stolz aus - dass sie das jetzt noch lernt und nicht einfach nur daheim darauf wartet, dass die Tage irgendwie vorüber gehen. Den Führerschein machte sie auch erst vor ein paar Jahren, als es ihrem Mann immer schlechter ging. Und jetzt ist eben der Schwimmkurs dran.

Ursprünglich kommt Platzer aus einem kleinen Dorf in Mittelfranken. Dort gab es nur einen Bach, vielleicht 30 Zentimeter tief. Schwimmen konnte man darin nicht lernen. Und später war dafür keine Zeit. Einmal musste sie zu einer Reha-Kur, sollte dort auch ins Wasser. Doch der Lehrer ließ sie einfach los - ohne Warnung. Sie ging unter, seitdem fürchtete sie sich. Als sie von dem Schwimmkurs in Riemerling las, wollte sie es noch einmal probieren. Einfach so für sich.

Doch viele hier lernen schwimmen für andere: Eine Rumänin erzählt, dass sie immer Angst habe, wenn sie mit ihren Kindern im Sommer einen Ausflug an einen Badesee macht. Weil sie nicht helfen könnte, wenn die Kinder im Wasser gerettet werden müssten. Weil sie zusehen müsste, wie sie untergehen. Zumindest war das in der Vergangenheit so. Inzwischen kann sie selbst ganz gut schwimmen, will jetzt noch Kraulen lernen. Doch besonders gerne, sagt sie, komme sie immer noch nicht zum Kurs. Sie mag das Wasser einfach nicht. Trotzdem: Im Sommer will sie ein besseres Gefühl haben.

© SZ vom 21.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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