Höhenkirchen-Siegertsbrunn:Langes Warten, bis der Arzt kommt

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Die Verteilung der Praxen im Landkreis ist oft unwuchtig. Ärzte und Gemeinden haben keine Mittel gegen den veralteten Verteilungsschlüssel

Von Sabine Oberpriller, Höhenkirchen-Siegertsbrunn

Immer wieder sprechen Menschen Roland Spingler von der CSU an, die sich einen Augenarzt am Ort wünschen. Deswegen organisiert die Partei jetzt Unterschriftenaktionen. Was nach Aktionismus klingt, ist reine Berechnung. Das Problem liegt nicht in der Gemeinde; am Ort sind sich alle über den Bedarf einig. Die Unterschriften sollen ihrem Anliegen gegenüber den zuständigen Behörden Gewicht verleihen. Denn einen Arzt zu bekommen, ist im Kreis München fast unmöglich. Die Gemeinden Garching und Unterföhring haben dieselbe Erfahrung gemacht. Das aktuelle Regelsystem ist streng - und veraltet, so schätzen es viele Fachleute ein.

In Höhenkirchen-Siegertsbrunn leben viele ältere Leute, die nächsten Augenärzte sind in Ottobrunn angesiedelt. Die Gemeinde sei nicht gut angebunden. Gerade die Älteren, die zur Hauptklientel der Fachpraxen gehörten, seien aber nicht so mobil, sagt Spingler. "Außerdem ist Höhenkirchen-Siegertsbrunn in den letzten Jahren derart gewachsen, dass es Einzugsgebiet auch für umliegende Orte ist. Es ist Zeit für einen Augenarzt am Ort." Das klingt nach guten Argumenten, aber die Arztsitze sind streng reglementiert. Einen Arztsitz in einem Ballungsraum wie München zu bekommen, kommt einem kafkaesken Kampf mit den Behörden gleich.

Ganz Deutschland ist in Zulassungsgebiete unterteilt, die je nach Fachbereich unterschiedlich groß sind und in denen unterschiedlich viele Ärzte sich niederlassen dürfen. So sind derselben Fläche beispielsweise weniger Neurologen als Augenärzte zugeteilt. Die höchste Dichte erreichen Allgemeinärzte. Der Bedarf an Ärzten errechnet sich anteilig an der Bevölkerungszahl und wird in Prozent ausgedrückt. München ist laut dieser Statistik in nahezu allen Fachbereichen überversorgt. Dass das nicht sein kann, denken sich einige, die versucht haben, einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen - und die Ärzte selbst, deren Terminpläne überlaufen.

Die Versorgung durch Augenärzte liegt bei 128,7 Prozent. Neue Arztsitze werden so bestimmt nicht geschaffen. Und will man doch einen, braucht man sehr gute Argumente. Auch wenn es real bedeutet, dass 25 Praktizierende für knapp 330 000 Bürger zuständig sind. Dazu kommt eine Unwucht in der Verteilung, die bei den Augenärzten augenfällig wird: Vier Sitze befinden sich in Ottobrunn, vier in Unterhaching, im südöstlichen Landkreis gibt es keinen. Birgit Grain von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) erklärt das Prozedere: Das Einfachste sei, einen Arzt dazu zu bringen, seine Praxis innerhalb des Zulassungsgebietes zu verlegen, auch wenn das genehmigt werden müsse. "Oder ein zuziehender Arzt kauft einen Arztsitz von einem Arzt auf, der in Pension geht", sagt sie. Das scheint nicht undenkbar. Acht Augenärzte im Kreis sind über 60 Jahre alt. Nur ist das Renteneintrittsalter für Ärzte gelockert worden. Sollte all das nicht klappen, können Gemeinden einen Sonderbedarf anmelden. Noch nie ist einer genehmigt worden. Verständlich, dass die Bürger von Höhenkirchen-Siegertsbrunn sich rüsten, bevor sie überhaupt tätig werden.

Zunächst klingt das System durchaus sinnvoll. Es soll dafür sorgen, dass idealerweise Ärzte gleichmäßig über alle Regionen verteilt sind und gleich viele Patienten haben. Das Problem? Die Richtzahlen sind Anfang der Neunziger bei der Gesundheitsreform unter dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer entstanden. Sie sind seither nie überarbeitet worden. Für Zuzugsgebiete wie den Münchner Raum fatal. Vor 1992 sei die ärztliche Versorgungsdichte überhaupt nicht reguliert gewesen, erklärt Max Kaplan, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer. Einer angeblichen Überversorgung sollte entgegengewirkt werden. "Das Problem ist", sagt er, "dass damals die Zahlen völlig willkürlich ohne Evaluierung festgelegt wurden." Man habe den damaligen Ist-Zustand der ärztlichen Versorgung als Obergrenze mit hundert Prozent definiert. Dass die Bevölkerung in und um München in der Zwischenzeit deutlich angewachsen ist, ist nicht ernsthaft berücksichtigt worden.

Die Gemeinde Unterföhring kämpft seit 2013 gemeinsam mit Arzt Philipp Schoof um eine Kinderarztpraxis im Ort. Nach dem Rechensystem ist das Münchner Gebiet mit 143,3 Prozent überversorgt. Unterföhring hat sich durch seine kinder- und familienfreundliche Politik zur kinderreichsten Gemeinde im Landkreis entwickelt, mit 2100 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Bürgermeister Andreas Kemmelmeyer spricht aus eigener Erfahrung, wenn er sagt, dass es für berufstätige Eltern ein unglaublicher Aufwand sei, zu den Praxen in den umliegenden Orten zu fahren. Die Gemeinde hat versucht, Schoof mit sämtlichen politischen Mitteln zu unterstützen. "Was kann man tun?", sagt Kemmelmeyer. Inzwischen ist er einigermaßen hilflos. Er hat Briefe an alle Behörden geschickt. Bei jedem Treffen mit einem höheren Politiker spricht er das Problem an.

Aber bis sich etwas ändert, ist noch ein langer Weg. "Die gemeinsame Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und der Gesetzgeber schieben ihre Zuständigkeit hin und her", sagt Kaplan. Dabei sei es wichtig, dass der Gesetzgeber valide Richtzahlen beschließe. Darüber hinaus müsse er aber der Selbstverwaltung die nötigen Freiräume geben.

Bisher durfte Schoof nur eine Filiale seiner Praxis in Unterföhring öffnen. Solche Praxen dürfen maximal halbtags betrieben werden. Für Schoof rechnet sie sich kaum. Pro Quartal bezahlen die Krankenkassen eine gewisse Anzahl Behandlungen. Alles, was darüber hinausgeht, wird nicht vergütet. "Das gibt einen Regress, das ist absurd, das gibt's in keinem anderen Beruf", sagt Schoof. Die Gemeinschaftspraxis Schoof und Müller ist jetzt schon "auf Anschlag", wie Schoof sagt. Und böte die Filiale Ganztagsbetrieb, sie wäre ebenfalls ausgelastet - auch weil Eltern aus München herausfahren, wo Ärzte zum Teil keine neuen Patienten mehr aufnehmen. "Durch die Filiale entstehen zusätzliche Fixkosten, die wir nicht durch entsprechende Mehreinnahmen abfangen können, ist das für uns eine erhebliche finanzielle Belastung. Es ist nicht so, dass wir im Geld schwimmen", sagt er. Einem Kollegen einen Arztsitz abzukaufen, bedeute ein zusätzliches Preisvolumen.

Die Gemeinde Garching möchte gern ein Ärztezentrum bauen. Das Rathaus wirbt auf der Website, schaltet Anzeigen im Ärzteblatt. Es ist der Versuch den Bürgern vor Ort eine umfassende und offenbar dringend benötigte Versorgung zu ermöglichen. Er ist fast chancenlos. Zwar gebe es Interessenten, sagt die Geschäftsführerin des Rathauses Sylvia May, aber ohne die begehrten Arztsitze sei nichts zu machen. Einen Sonderbedarf hat die KVB nicht erkannt. "Dabei haben wir vor Ort eine besondere Situation", sagt May. "Neben unseren 17 500 Bürgern bewegen sich täglich 15 000 Studenten und etwa 16 000 Pendler im Ortsgebiet. Man kann nicht nur von der Bevölkerungszahl ausgehen."

Absurd ist es seit Juli dieses Jahres, als das neue Versorgungsstärkungsgesetz in Kraft trat. Es soll einerseits die Versorgung durch Ärzte verbessern, andererseits sieht es vor, dass die kassenärztlichen Vereinigungen in Bereichen, die mit mehr als 140 Prozent überversorgt sind, freiwerdende Arztsitze aufkaufen sollen. Glücklich ist damit niemand. "Für uns ist das eine enorme finanzielle Zusatzbelastung", sagt Grain. Zudem sei die demografische Entwicklung nicht berücksichtigt. Schoof sieht dahinter einen anderen Plan. Die große, politische Linie sei, Fachpraxen gar nicht mehr zu fördern, die Versorgung mit Arzt-Patient-Beziehung abzuschaffen und in ambulanten Krankenhausstationen zusammenzufassen, vergleichbar wie in England oder auf dem Baltikum, sagt er und ist kurz davor, aufzugeben. Das System sei frustrierend, weil nicht innovationsfreudig.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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