Haus am Viktualienmarkt:Tiefe Risse

Lesezeit: 3 min

Das Gebäude am Viktualienmarkt, in dem das "Lotter-Leben" ist, steht unter Denkmalschutz. Jetzt warnen die Eigentümer plötzlich vor Einsturzgefahr - die Mieter halten das für einen Vorwand.

C. Anton und S. Knieps

Klaus Fischnaller verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich bleibe da oben, bis ich rausgetragen werde", sagt der 57-Jährige. Seit 22 Jahren lebt er in seiner Zweizimmerwohnung an der Frauenstraße 4, direkt am Viktualienmarkt. Am 20. September stellte sich der neue Vermieter Derag per Post bei ihm vor. Zur "Besprechung wichtiger Vertragsangelegenheiten" sollte er dringend einen Termin vereinbaren. Kurz darauf erhielt Fischnaller die Kündigung: "Wie mit Ihnen besprochen, gibt es Bedenken hinsichtlich der Standsicherheit des Objektes, die es notwendig machen, das Objekt zeitnah zu räumen. (...) Wir sind gezwungen, Ihnen hiermit fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin zu kündigen." Was war passiert?

Frauenstraße 4, direkt am Viktualienmarkt: Das Gebäude soll angeblich einsturzgefährdet sein. (Foto: N/A)

Kurz nachdem die Derag das Gebäude im Frühjahr von der Sendlmayr Grund und Immobilien KGaA gekauft hatte, beauftragte sie einen Statiker damit, das Gebäude wegen der Risse im Treppenhause näher zu untersuchen. Ende August schloss der Derag-Prüfstatiker seine Untersuchungen mit einem Gutachten: Die Standsicherheit des Hauses ist gefährdet. Im Klartext: Das Haus könnte einstürzen. Von den Rissen jedoch wusste die Derag schon vor dem Kauf. "Der Kaufvertrag wurde unter Berücksichtigung der bekannten Risse mit der Derag abgeschlossen", sagt Jobst Kayser-Eichberg von der Sendlmayr Grund und Immobilien KGaA.

Doch von Rissen in der Wand bis zur Einsturzgefahr ist es ein großer Schritt. Bei der Derag ist man jedenfalls überrascht, heißt es dort auf SZ-Anfrage. Man sei weder erfreut noch vorwissend über die Einsturzgefahr gewesen.

Das Statiker-Gutachten reichte die Derag bei der Denkmalschutzbehörde ein, zusammen mit einem Antrag auf Auflösung des Denkmalschutzes und Abbruch des Hauses; denn das 1853 gebaute Haus steht, wie fast alle Gebäude an der Frauenstraße, unter Denkmalschutz. "Der Antrag wird derzeit noch von der unteren Denkmalschutzbehörde geprüft", sagt Thorsten Vogel, Sprecher des Planungsreferats. Man prüfe, "inwiefern eine Sanierung des Hauses noch sinnvoll erfolgen könnte, ohne dass das Denkmal in seiner Substanz reduziert wird." Es stellt sich auch die Frage, was bei einer etwaigen Kernsanierung noch vom Denkmal übrig bliebe. Da derzeit keine akute Einsturzgefahr vom Haus ausgeht, bestehe auch kein akuter Handlungsbedarf seitens der Behörden. "Die Überprüfung kann noch einige Wochen dauern", sagt Thorsten Vogel.

Klaus Fischnaller reagierte schneller. Da er sich nicht vorstellen konnte, dass das Gebäude plötzlich einsturzgefährdet sei, konsultierte er den Mieterverein München. Dessen Rechtsabteilung nahm sich der Sache an und blieb nicht untätig. In einem Brief an die Derag vom 11. November heißt es: "Für uns ist immer noch nicht konkret nachvollziehbar, warum auf einmal die Standsicherheit des Gebäudes gefährdet sein soll (das Gebäude steht wie gesagt seit vielen Jahrzehnten). Des Weiteren fragen wir an, welche Kosten aufzuwenden wären, um die Mängel der Standsicherheit zu beheben." Dieses Schreiben sei bislang unbeantwortet geblieben, sagt Beate Marschall vom Mieterverein.

Andreas Lotter (im Bild mit Janine Chanel) betreibt in dem Haus seit zehn Jahren das Café "Lotter-Leben". (Foto: RUMPF, STEPHAN)

"Ich verstehe nicht, dass kein unabhängiger Gutachter kommt, um zu prüfen, ob das Gebäude wirklich einsturzgefährdet sei", sagt Andreas Lotter, der im Erdgeschoss das Café Lotter-Leben betreibt. Er soll sein Lokal ebenfalls bis zum Jahresende räumen. "Ich habe noch nichts in Aussicht, es ist einfach alles unbezahlbar." Seinen zwanzig Mitarbeitern droht die Kündigung. Dabei sei die Einsturzgefahr nur ein Vorwand, so die Vermutung der Mieter, um die Bewohner los zu werden. Das Haus solle einem Hotel weichen, "darüber redet der ganze Viktualienmarkt", sagt Lotter.

Klaus Fischnaller trinkt einen Kaffee. Er ist Stammgast im Lotter-Leben. Täglich werde er vom neuen Vermieter angerufen. "Ich bleibe beinhart", sagt er. Über das Angebot, das er von der Derag bekommen hat, schüttelt er den Kopf: "Mir wurde eine Wohnung an der Klenzestraße gezeigt, die kleiner ist als meine. Ein Jahr könnte ich dort wie hier für 766 Euro wohnen, danach müsste ich über 1000 Euro bezahlen. Das kann ich mir nicht leisten."

Ein ähnliches Angebot der Derag lehnte auch Christine Handl ab. Sie lebt seit 66 Jahren im Haus an der Frauenstraße 4, sie ist in der Wohnung geboren. Wie es jetzt weitergeht, weiß sie noch nicht. "Das geht schon auf die Nerven. Ich esse eine ganze Tafel Schokolade auf einmal, das habe ich sonst nie gemacht."

© SZ vom 16.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: