Grünwald:Schreiben und rechnen wie die Großen

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Seit September gibt es an der Max-Kneidl-Grundschule in Grünwald eine Klasse, in der Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet werden. Für die Lehrerin bedeutet das mehr Arbeit. Doch der Aufwand lohnt sich

Von Christina Hertel, Grünwald

Es wird geraschelt, geflüstert, ausgepackt, das Federmäppchen noch mal hin und noch mal hergerückt. Dann plötzlich macht es "pling", Anke Keller schlägt auf ihr Xylofon. Und auf einmal ist es still. Alle 21 Kinder vor ihr geben keinen Mucks mehr von sich und sitzen ruhig an ihren kleinen Schulbänken.

Keller ist Lehrerin an der Max-Kneidl-Grundschule in Grünwald. Schon seit zwölf Jahren unterrichtet sie immer erste und zweite Klassen. Aber dieses Jahr ist alles anders. In der neuen Klasse sind Erst- und Zweitklässler gemischt. Manche haben im vergangenen Jahr schon lesen gelernt, andere schreiben gerade ihren ersten Buchstaben. Wie soll das funktionieren? Und vor allem, was soll das bringen? Früher, zu Großmutters Zeiten, wurden die Schüler auch alle in einem Klassenzimmer unterrichtet. Einfach, weil kein Geld da war. Und jetzt will das bayerische Kultusministerium zu diesen Zuständen zurück?

Thadäa ist gescheit, das merkt man schnell. Wenn sie einen Buchstaben nicht ganz akkurat auf ihren Block schreibt, radiert sie ihn weg und probiert es noch mal. Und noch mal, wenn es sein muss. Gerade schreibt sie "Lupe". Kein Problem für sie, eigentlich wäre sie in der zweiten Klasse, eigentlich kann sie schon ganze Sätze schreiben. Neben ihr sitzt ihre kleine Schwester Jacinta. Sie ist gerade frisch in die Schule gekommen. Gestern hat sie das U gelernt. "Wie geht das P", fragt Jacinta ihre große Schwester. "So", antwortet die und deutet in ihr Heft. "Und wie geht das E?" "Ein Strich und drei Striche dran." Tatsächlich malt Jacinta die Buchstaben in ihr Heft, mit einem schiefen Blick zur Schwester.

"Wir sind extrem weit für die paar Wochen Schule", sagt die Lehrerin Anke Keller. "Normalerweise dauert es viel länger, bis sich die Erstklässler zurecht finden und erste Wörter schreiben können." Keller ist motiviert. Obwohl das Modell der "flexiblen Grundschule" mehr Stress für sie bedeutet. Sie muss mit den Schülern oft Material für Gruppenarbeiten vorbereiten. Sie muss die Hausaufgaben an die einzelnen Schüler anpassen. Sie muss auf jeden individuell eingehen, jeden "dort abholen, wo er gerade steht". Keller wusste das und wollte es trotzdem.

Lehrerin Anke Keller hat in den ersten Wochen des Schuljahres gute Erfahrungen mit der flexiblen Grundschule gemacht. (Foto: Claus Schunk)

Die Max-Kneidl-Schule hat sich für die "Flex-Klasse" beim Kultusministerium beworben. Es gibt das Modell mittlerweile an 188 Schulen in Bayern. Die Schüler können die ersten zwei Schuljahre entweder in einem, in zwei oder drei Jahren absolvieren. Brauchen sie ein Jahr länger, wird das nicht offiziell gezählt. "Wir wollten die Klasse, weil wir viele Schüler hatten, die ein Jahr übersprungen haben, aber auch viele, die wiederholt haben", sagt Rektorin Renate Zeiler-Göttelmann. Sie fragte Anke Keller, ob sie die Klasse unterrichten möchte. Auch die Eltern fragte sie. Wenn es keiner gewollte hätte, hätte sie das Ganze sein lassen. Aber 60 Prozent der neuen Erstklass-Eltern bewarben sich um einen Platz. Die Eltern der Zweitklässler waren zögerlicher. Nur neun dieser Kinder wurden in die neue Klasse geschickt. Claudia Reichenberger ist die Mutter eines Zweitklässlers. Sie hat einen Zettel mitgebracht, auf dem die Gründe stehen, warum ihr Sohn David nicht mit seinen Klassenkameraden ganz normal in die zweite Klasse geht. Ein Punkt heißt: "Weg vom Frontalunterricht."

Mucksmäuschenstill ist es jetzt nicht mehr in der Klasse 1-2a. Ein paar Kleine kneten das U auf dem Fußboden, ein paar malen es in den Sand, wieder ein paar in einer anderen Ecke stempeln es auf ein Blatt Papier. Die Größeren schreiben längere Wörter wie "gemeinsam" am Computer oder in ihr Heft. Die Kinder sollen so selbständiger werden, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn ein Kind das nicht kann? "Da muss ich natürlich aufpassen, mit ihm sprechen", sagt Keller. Dass die "Individualität des Kindes", wie es bei den Pädagogen heißt, mehr gefördert wird, war für viele Eltern ein Grund, sich für dieses Modell zu entscheiden. Philine-Sophie kann schon im Hunderterbereich rechnen, obwohl sie gerade erst eingeschult wurde. In einer normalen Klasse müsste sie noch ein Jahr warten, bis sie zeigen könnte, was sie drauf hat. Jetzt kann sie sich in Mathe zu den Großen dazusetzen.

Für noch mehr individuelle Förderung gibt es in der Klasse eine extra Förderlehrerin. Sie kommt ein paar Stunden die Woche und kann sich einzelne Schüler beiseite nehmen, wenn sie Hilfe brauchen oder sich langweilen. Außerdem sind die jeweiligen Klassen ein paar Stunden mit Keller alleine. "Das ist ja quasi wie Privatunterricht. Eine Lehrerin für zwölf Kinder", sagt Joachim Braner, der Vater einer Schülerin. Wie die anderen Eltern auch, wie die Lehrerin und wie die Schulleiterin will er das Beste für sein Kind. Es soll Abitur machen, aber nicht zu viel "Leistungsdruck" spüren und bloß nicht in einer "Ellenbogen-Gesellschaft" aufwachsen.

Beim Schreiben orientieren sich die Erstklässler an den Großen. (Foto: Claus Schunk)

Ob das so funktioniert, wird sich wohl erst in ein paar Jahren zeigen. Jetzt sind auf jeden Fall alle noch hoch motiviert. Gerade lernen die Größeren Gedichte, die Kleineren müssen das eigentlich noch nicht. "Mein Kind kam zu mir und meinte, sie will das auch lernen, weil es die anderen ja auch können", sagt Anja Marie Seelig, die Mutter einer Erstklässlerin. "Ich höre von Eltern, dass ihre Kinder extra lesen üben, damit sie den Kleinen besser vorlesen können", sagt Keller, die Lehrerin.

Aber wie finden die Kinder die neue Klasse? David, ein blonder Junge, eigentlich wäre er jetzt in der Zweiten, sagt: "Im alten Klassenzimmer hatten wir ein anderes Regal. Den zweiten Raum hatten wir auch nicht." Na dann.

© SZ vom 16.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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