Grünwald:Heilsame Erfahrungen

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Die Therapeuten Tatjana Lisson und Jonas Berg sehen ihre Einrichtung in Grünwald als gut etabliert an (Foto: Claus Schunk)

Seit 20 Jahren werden Psychiatrie-Patienten in einer Wohngemeinschaft in Grünwald gemeinsam therapiert

Von Claudia Wessel, Grünwald

In diesem idyllisch gelegenen Haus in der Grünwalder Nibelungenstraße 10 zu wohnen, ist nicht immer leicht. Denn wer sich darauf einlässt, schneidet sich alle Fluchtmöglichkeiten ab. Zumindest die, mit denen er vor sich selbst weglaufen möchte. Wer dort wohnt, lernt sich kennen. Denn dort residiert die "Therapeutische Wohngemeinschaft" des "Trägervereins für Freie und Therapeutische Wohngemeinschaften der Dynamischen Psychiatrie". Und das seit genau 20 Jahren. Am 25. Juli wird dies intern gefeiert.

Eine der Grundbedingungen, um einziehen zu dürfen, ist die Teilnahme an der gruppendynamischen Sitzung jeden Freitagabend. Und zwar wirklich jeden! Da gibt es keine Sommerpause und keinen Weihnachtsurlaub, keine faulen Ausreden und kein "Null Bock". Allein dienstliche Gründe oder Krankheit werden als Entschuldigung für Abwesenheit akzeptiert. Um ein wenig Abstand zum alltäglichen Leben zu gewährleisten, findet diese Sitzung nicht im Haus, sondern in einem Raum in München statt. Denn solch ein Abend ist nicht immer einfach, auch nicht unbedingt harmonisch. Wenn die zur Zeit 15 Bewohner des Hauses aufeinander treffen und sich offen alles sagen, was sie bewegt, kann es schon mal rund gehen.

"Auch wir werden kritisiert", sagt die Leiterin des Hauses, Tatjana Lisson. "Aber so soll das auch sein." Denn genau das ist es, was die in der Wohngemeinschaft lebenden psychisch Kranken erlernen sollen: Man kann sich auseinandersetzen und die Beziehung bleibt trotzdem erhalten. Man wird nicht verlassen. Viele haben in ihrer Jugend anderes erlebt. In ihren Familien wurden sie mit vielem allein gelassen und konnten kein Vertrauen entwickeln. Die Dynamische Psychologie glaubt: "Wer aufgrund seiner ersten Gruppe im Leben, der Familie, krank geworden ist, kann nur wiederum in einer Gruppe geheilt werden", sagt Lisson. Diese Gruppe finden die Betroffenen in der Nibelungenstraße.

Ein Luxusleben haben die Bewohner weiß Gott nicht, auch wenn ihr hübsches Haus in einer der wohlhabendsten Gemeinden des Landkreises steht. "Wir haben kein Geld", sagt Lisson über den Trägerverein. Die Gemeinde unterstützt die Wohngemeinschaft aber nach Kräften und hat schon viel gespendet. Etwa eine Heizöllieferung. Einen Klavierstimmer. Einen Kicker. Und an Weihnachten gibt es auch jedes Jahr eine Spende. Mit den Bewohnern sei man in der Gemeinde auch sehr zufrieden, versichert Lisson. Etwa auf dem Sozialamt, wo einige regelmäßig hinmüssen, hätten bisher alle einen guten Eindruck hinterlassen.

Dass man nicht im Luxus lebt, sieht man dem Haus an. Es wirkt im Inneren durchaus schon ein wenig abgewohnt, aber auch das kann therapeutischen Nutzen haben, versichert die Leiterin. Die Bewohner müssen eben selbst dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlen. Selbst mal die Zimmer streichen, renovieren, putzen sowieso. Jeder hat ein Einzelzimmer, Bad und zwei Küchen finden sich auf dem Flur.

Die seelisch Behinderten in dem Haus haben meist Krankheiten aus dem Kreis der Psychosen, etwa Borderline. Einige sind auch depressiv. Doch alle sind schon so selbständig, dass sie ihre Medikamente alleine nehmen, dass sie am Wochenende und abends alleine sein können - denn dann gehen die vier Teilzeit-Betreuer nach Hause. Auch muss jeder eine Tagesstruktur haben, also ein Ehrenamt, ein Praktikum oder einen Job, jedenfalls einen Ort, wo er regelmäßig hin muss. Eine weitere Bedingung ist, außerhalb eine Psychotherapie zu machen. Zur wöchentlichen eineinhalbstündigen Gruppensitzung kommt eine Einzelstunde bei einem der Betreuer aus dem Haus. Ziel der Betreuung im Haus ist generell, mit den "gesunden Ich-Anteilen" der Personen zu arbeiten, diese zu verstärken, Talente zu unterstützen und Mut zu machen. Alle drei Wochen am Samstag gibt es dafür auch einen Projekttag, etwa mit Gartenarbeit oder anderem. Auch die Ideen der Bewohner sind dabei gefragt.

Erfolgsmeldungen kann Lisson einige geben. Da ist der Ex-Bewohner, der vor zehn Jahren ausgezogen ist und inzwischen als Künstler arbeitet. Da ist der ehemalige Depressive, der die ersten drei Monate nie aus seinem Zimmer kam und inzwischen studiert, eine Freundin hat und ein normales Leben. Oder die Langzeitbewohnerin, die dann irgendwann doch eine eigene Wohnung nahm und es auch alleine schafft. Die durchschnittliche Wohndauer in der WG ist zwei bis vier Jahre.

Das Leben in der Wohngemeinschaft sei ja gar nicht das wahre Leben, behaupten manche. Doch da widerspricht Lisson. Es sei zwar ein geschützter Bereich, doch in mancher Hinsicht sogar härter als das wahre Leben. Wer diskutiert schon jede Woche mit 15 Personen aus seinem näheren Umfeld über alles, was ihn bewegt. Inklusive Streit. Vielleicht ist das Leben in einer eigenen Wohnung dann sogar richtig leicht.

© SZ vom 17.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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