Grünwald:Dynamische Stehgeiger

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Jakob Encke, Daniel Stoll (Violine), Leonard Disselhorst (Cello) und Sander Stuart (Viola) beherrschen das klassische Repertoire genau so wie den Groove, den ein Jazz-Standard erfordert. (Foto: Angelika Bardehle)

Das Vision String Quartet zeigt bei seinem Konzert im August-Everding-Saal erfrischende Interpretationen aus der Welt der Klassik und des Jazz

Von Udo Watter, Grünwald

In der Welt des Fußballs gilt der Stehgeiger als technisch versierter, lauffauler Spieler, der meist schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Bei den Fans nie ganz unumstritten, da sich bei ihm Momente der Genialität mit aufreizender Lustlosigkeit abwechseln, ist er im laufintensiven und hochdynamischen Spiel der Moderne eine aussterbende Spezies, ein Anachronismus. Im Kosmos der klassischen Musik schaut die Zukunft der Stehgeiger besser aus. Natürlich weniger in der Tradition des 19. Jahrhunderts, wo er sich einst in Wiener Kaffeehäusern und Salons als Leiter von Tanzkapellen etablierte, sondern so, wie die Jungs vom Vision String Quartet es inszenieren: Jakob Encke, Daniel Stoll (beide Violine) und Sander Stuart (Viola) scheinen bei ihrem Konzert in Grünwald schon allein durch die aufrechte Positur und damit verbundene Bewegungsfreiheit einen augenfälligen Vorsprung an Dynamik und Verve zu entfalten.

Das in Berlin beheimatete Quartett - Cellist Leonard Disselhorst ist der einzige der Vier, der beim Spielen sitzt - zeigte bei seinem Auftritt im August-Everding-Saal von Beginn an, warum es als erfrischendes und angesagtes Newcomer-Ensemble in der Szene gilt - unter anderem haben sie 2016 den 1. Preis sowie alle Sonderpreise beim Berliner Mendelssohn-Wettbewerb und beim Concours de Genève gewonnen. Zu ihrer Version von Schuberts "Erlkönig" waberte passend zur Atmosphäre der ursprünglich von Goethe geschriebenen Ballade künstlicher Nebel über die Bühne, die Musiker akzentuierten angemessen scharf, ließen aber auch fein balancierte Momente im Raum schweben und erlagen nicht der Versuchung, die fatale Geschichte vom sterbenden Kind mit allzu grellen Klangfarben auszuleuchten.

Als Hauptstück des ersten Teils spielten sie Debussys Streichquartett g-Moll. Im ersten Satz des Werkes, das der französische Komponist im Alter von 31 Jahren komponierte, zeigten sich schon Ansätze seiner charakteristischen impressionistischen Tonsprache. Wie das Ensemble, das nicht aus einem Spleen heraus (großteils) im Stehen spielt, sondern weil die Mitglieder zufällig herausfanden, dass sie in der Positur besser aufeinander einzugehen vermögen, entwickelte eine mitreißende Kombination aus Phrasierungsintelligenz und Lässigkeit. Das kam gleich so gut an, dass gar nicht wenige im Publikum nach dem ersten Satz - shocking! - applaudierten. Das passierte nach dem Ende des zweiten Satzes, ein wunderbar vorgetragenes Pizzikato-Scherzo, gleich noch mal - insofern konsequent als es ein Konzert der Reihe "Klassik Plus" war, man also die Etikette nicht ganz so genau einhalten musste. Nicht puristisch waren auch die Lichteffekte, zum dritten Satz wurde die Bühne abgedunkelt, melancholische, mit leichtem Vibrato inszenierte Töne schufen eine berührende Stimmung, die nie ins Süßliche hinüberlappte und so sublim ausklang, dass sich diesmal niemand zu klatschen traute.

Nach der Pause folgte dem konventionellen Programmpunkt der Teil mit Jazz- und Popmusik samt ausgeklügelter Licht- und Tontechnik. Der Vorhang öffnete sich zu "Come together" von den Beatles, das Intro scharf und packend gespielt vom Cellisten Leonard Disselhorst. Generell zeigten sich die vier Protagonisten jetzt noch einen Tick lässiger als zuvor, und präsentierten ihre Instrumente nun von einer etwas anderen Seite - durch einen Subwoofer klang etwa das Cello eher wie ein Bass, spezielle perkussive Techniken an Geigen und Bratsche ersetzten das für Pop-Bands so wichtige Schlagzeug und kleine an den Instrumenten installierte Mikrofone erzeugten einen fetteren Sound. Durch das pointierte Erzeugen von Grooves mit den Bögen - die Spieltechnik heißt Choppen - und der Lust an Off-Beats erreichte der Abend eine neue rhythmische Qualität. Die Vier bewegten sich geschmeidig über die Bühne und trugen vornehmlich Jazz-Stücke vor von Benny Goodman, George Gershwin oder Oliver Nelson, glänzten aber auch mit der Eigenkomposition "Samba", bei dem sie ihre Instrumente zu Gitarren umfunktionierten und ohne Bogen agierten. Die verwendeten sie wieder bei der Zugabe, wo sie unter Stroboskop-Effekten noch mal einen scharfen suggestiven Streicher-Sound entfalteten. Ein Generalangriff auf die Sinne, der das Publikum offenbar so stark forderte, dass es mit einer Zugabe zufrieden war.

© SZ vom 01.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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