Garching:Erweiterter Horizont

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Die Garchinger Firma Harman entwickelt autonome Fahrzeuge, die ihren Insassen allerlei Annehmlichkeiten bieten. Hier ist die Zukunft des Individualverkehrs zu bestaunen - mit all ihren Risiken. Ein Besuch

Von Markus Mayr, Garching

Künftig dürfen Autofahrer wohl getrost die Hände vom Lenkrad nehmen und sich entspannt im Sitz zurücklehnen. Denn: Ihre Fahrzeuge werden die Straße genauso kennen wie ihnen die musikalischen Vorlieben ihrer Insassen bekannt sind. Michael Mauser sieht schier unbegrenzte Möglichkeiten. Was Autos in Zukunft können werden, sei nicht vorstellbar, sagt der Geschäftsführer der Audio- und Entertainment-Abteilung des Autotechnologie-Entwicklers Harman. Das Unternehmen hat seine Sparten seit September in Garching unter einem Firmendach vereint. Techniker und Programmierer entwickeln nun dort im Gewerbegebiet Soundanlagen und Alleskönner-Displays, aber auch Infotainment-Systeme, die Fahrzeugen das eigenständige Fahren beibringen. Was für Automobilisten ziemlich gemütlich klingen mag, birgt gewisse Risiken. Die Computersysteme der Autos sind potenziell von Hackern angreifbar.

Der Kollege von Audio-Chef Mauser, Thomas Stocker, leitet die Abteilung Connected Car: Den Unternehmensbereich, der sich um die Entwicklung von Computersystemen kümmert, die Autos miteinander vernetzen und die virtuellen Hirne der Fahrzeuge mit Informationen über ihre Umwelt füttern. Mauser und Stocker teilen die Überzeugung, dass Autofahren sicherer und angenehmer werden soll. Und Technologien wie die ihren dazu beitragen würden.

Bei einem Besuch des neuen Firmenstandorts zeigen Mitarbeiter Videos von reellen Autofahrten. In ihnen ist zu sehen, wie störendes Motorenbrummen oder das tiefe Surren der Reifen auf der Straße von elektronischen Steuerelementen getilgt werden. Stattdessen überträgt die Technik künstlich erzeugten Motorenklang für die Insassen ins Fahrzeuginnere. Damit die "DNA eines Autos" erhalten bleibe, sagt Mauser. Dies sei nötig, weil Motoren immer leiser liefen. Weil sie etwa - um den Ausstoß von Schadstoffen zu verringern - nicht benötigte Zylinder vorübergehend abschalten. Der künstliche Klang solle verhindern, sagt Mauser, dass der Fahrer sein Gefühl für Geschwindigkeit und Beschleunigung verliert. Um Fußgänger zu warnen, werde künstliches Motorengeräusch in Fahrtrichtung ausgesandt.

Doch nicht nur in Sachen Lauschkomfort schreitet die Technik voran. Auch was das autonome Fahren anbelangt, gebe es "schon mehr als die Gesetzeslage zulässt", sagt Thomas Stocker. Selbstfahrende Autos wurden auf deutschen Straßen zwar schon getestet, freigegeben für den alltäglichen Verkehr sind sie aber noch nicht. Doch mittels Radar und Ultraschall, Sensoren und Kameras könne bereits ein relativ "genaues Umfeld" des Fahrzeugs generiert werden, sagt Stocker. Sie arbeiteten daran, das Bild stetig zu verfeinern und dem Steuermodul des Autos so viel Information wie möglich zu liefern: über den Straßenbelag, ob rutschig oder nicht. Über die Sichtverhältnisse. Wann eine Ampel auf Rot umschaltet. Was hinter der nächsten Kurve passiert. Oberstes Ziel ist es laut Stocker, dem Auto "das vorausschauende Fahren" beizubringen. Noch vorausschauender soll es sein, als ein menschlicher Fahrer das könnte. Stocker nennt das den "erweiterten elektronischen Horizont", eine Art kollektives Gedächtnis der miteinander vernetzten Autos.

Ein Beispiel: Ein Sensor meldet dem Computersystem durchdrehende Reifen. Das elektronische Stabilitätsprogramm meldet einen Drift nach rechts in einer Linkskurve. Das Thermometer bemisst die Außentemperatur auf -1 Grad Celsius. Aus diesen drei Anzeichen schließe das System selbständig darauf, erklärt Stocker, dass die Straße an dieser Stelle mit Glatteis überfroren ist. Diese Information teilt es mit sämtlichen anderen Autos des Netzwerks. Diese können dann schon vor der Kurve wissen, dass es in derselben glatt ist - und vorausschauend vorsichtig fahren. Derzeit dauere es noch acht Stunden, so der Geschäftsführer, bis etwa die erfasste Information Glatteis auf die Systeme aller Autos des Netzwerks übertragen worden sei. Doch diese Zeitspanne schrumpfe stetig.

Die Vision vom selbstfahrenden Auto ist technisch gesehen also schon beinahe Realität. Hinsichtlich audiovisueller Unterhaltung steht ein Fahrzeuginnenraum einem Wohnzimmer in nichts nach. Wie das Probesitzen im Schauraum des Technologieentwicklers zeigt, kann jeder Sitzplatz sein eigenes Display und seine eigenen Lautsprecher haben - ohne dass sich bei gleichzeitiger Benutzung die Geräuschkulisse des Nachbarn über die Maßen störend vor die eigene schiebt.

Eine Reihe von Anwendungen im Bordcomputer soll das Fahren sicherer machen. Bekannt dürfte die blinkende digitale Kaffeetasse sein, die im Cockpit aufleuchtet, wenn der Fahrer lange ohne Pause hinter dem Steuer saß. Inzwischen blinkt in neuen Wagen der gehobenen Klasse nicht nur die dampfende Tasse sondern das eingebaute Navigationsgerät schlägt die nächsten Rastplätze vor, mit detaillierten Informationen über das dortige Angebot. Einmaliges Tippen auf den Touchscreen der Mittelkonsole genügt, und das Auto lotst den müden Fahrer in die nächste Pause. Der folgende Schritt in der Entwicklung der sogenannten Aufmerksamkeitsassistenz ist laut Thomas Stocker die Kontrolle der Vitalfunktionen und der Augenschließzeiten des Fahrers. Bleiben die Lider zu lange geschlossen, schlägt das Auto Alarm.

All die technischen Neuerungen, die entweder schon auf dem Markt sind oder die innerhalb der nächsten Jahre kommen werden, basieren darauf, dass eine unglaubliche Masse an Daten gesammelt wird: über das Straßennetz, den Verkehr an sich, die einzelnen Fahrzeuge und auch die Fahrer selbst. Stocker sagt, dass diese Daten ausschließlich anonymisiert verarbeitet würden. Die Privatsphäre der Autofahrer müsse gewahrt werden. Die Datensammelei sei ein "heikles Thema", die der Zustimmung der Autofahrer bedürfe. Stocker rechnet aber damit, dass Autofahrer ähnlich wie die Nutzer von Smartphones dem Zugriff auf persönliche Daten zustimmen werden.

Doch wie steht es um den Schutz vor Zugriffen von außen? Kann gewährleistet werden, dass sich niemand in das Computersystem eines selbst fahrenden Autos hackt und die Kontrolle übernimmt? "Niemand, und auch wirklich niemand darf ins Fahrzeug", sagt Stocker. Doch dass das trotz aller virtuellen Sicherheitswälle dennoch möglich ist, demonstrierten Hacker diesen Sommer auf einer Konferenz in Las Vegas. Sie hackten sich kabellos in das Infotainmentsystems eines Fahrzeugs und legten aus mehreren Kilometern Entfernung den Motor lahm.

© SZ vom 28.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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