Flucht und Vertreibung:"Ärmer als jede Kirchenmaus"

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Am Anfang hatten es die Heimatvertriebenen schwer in Unterföhring. Inzwischen haben sie einen eigenen Gedenkstein vor der Pfarrvilla, vor dem Hanne Kosta und Kurt Losert hier stehen. (Foto: Catherina Hess)

Kurt Losert kam nach dem Krieg als Flüchtling nach Unterföhring. Heute spricht der Zeitzeuge in Schulen

Von Sabine Wejsada, Unterföhring

Kurt Losert kann sich noch ganz genau erinnern, wie es sich anfühlte, als er nach dem Zweiten Weltkrieg und drei Jahren russischer Gefangenschaft zum ersten Mal nach Unterföhring kam. "Anfangs waren sie nicht freundlich zu uns Flüchtlingen", sagt der heute 91-Jährige. Und wenn man in seine Augen schaut, lässt sich erahnen, dass diese ersten Erfahrungen eines nicht willkommenen Ankömmlings noch immer in seiner Seele wohnen. Nach mehr als sieben Jahrzehnten ist die Erinnerung ganz wach.

Heute aber hat er sich längst ausgesöhnt mit all jenen, die die Flüchtlinge von damals als Bedrohung angesehen haben, sie schikanierten und ignorierten, sie spüren ließen, dass man sie nicht will. "Pfarrer Pschorr hat den Schülern damals eingetrichtert, dass sie nicht mit Flüchtlingskindern sprechen sollen, geschweige denn spielen." Trotz derselben Muttersprache, trotz der vermeintlich gleichen Kultur. Kurt Losert stammt aus dem Sudetenland; 1946 wurden seine Familie und er ausgewiesen. Nazi-Deutschland hatte den Krieg verloren, und in der damaligen Tschechoslowakei sollte niemand mehr bleiben, der aufgrund seiner Nationalität mit den Gräueltaten von Hitlers Vernichtungsmaschine auch nur im entferntesten in Verbindung gebracht worden ist. Losert musste gehen. Ein junger Mann damals, erschüttert vom Krieg, von der Gefangenschaft, wahrscheinlich auch von dem, was er gesehen hat in den Jahren an der Front.

Über das Rote Kreuz in München fand er die Verwandten wieder, die noch am Leben waren. Die erste Station von Losert war Finsing im Erdinger Landkreis, bei einem Bauern, der auf seinem Anwesen Flüchtlinge aufnehmen musste. Etwas älter als 21 Jahre war er damals. Ein junger Mann, der seine Jugend im Krieg verbracht hatte, der seine Heimat verlor und der irgendwo neu Fuß fassen musste. An einem Ort, den er nicht kannte, der nichts gemein hatte mit den Landschaften seiner Kindheit. Er bekam eine Anstellung bei den Bayernwerken, kam nach Unterföhring und gründete eine Familie. "Wir hatten dieselbe Sprache, dieselbe Kultur, aber waren ärmer als jede Kirchenmaus, es war schwer", sagt der 91-Jährige und meint damit die gut 900 Flüchtlinge, die nach dem Krieg in das 1600-Seelen-Dorf Unterföhring kamen. Sind die Vertriebenen von damals vergleichbar mit all jenen, die heute kommen? Losert nickt. Auch er und seine Angehörigen, die den Krieg und die Flucht überlebten, haben einen Migrationshintergrund. Natürlich.

Hanne Kosta, 63, kann das bestätigen. Sie erzählt die Geschichte ihrer heute 84 Jahre alten Mutter. Diese stammte aus Budweis (České Budějovice), heute Hauptstadt der Südböhmischen Region im Süden Tschechiens, und kam als junge Frau nach Unterföhring. Noch immer fühle sich die Mutter als Flüchtling, als jemand, der nicht von hier sei, sagt Hanne Kosta. Seit etwa zehn Jahren recherchiert sie über die Wurzeln ihrer Familie, fragte ihre Angehörigen und reiste zusammen mit Mutter und Sohn in das heutige Tschechien, an die Heimatorte von damals. Sie waren in Budweis und Rottenschachen, das Rapšach heißt. "Für mich war das eine ganz besondere Erfahrung, meine Mutter dort zu erleben", erzählt Kosta und zeigt Fotos von der gemeinsamen Spurensuche.

Hanne Kosta hat die eigene Familiengeschichte dazu bewogen, sich der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Unterföhring anzuschließen, die Kurt Losert leitet. Beide haben vor kurzem eine Ausstellung im Rathaus über die Sudetendeutschen organisiert. Jetzt sind die beiden gerade dabei, eine Aufstellung zu machen, wo "unsere Unterföhringer" herkommen. Anlass der Ausstellung war ein Jahrestag.

Vor zehn Jahren ist in der Gemeinde auf Initiative von Losert ein Gedenkstein für die Sudetendeutschen und die Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten vor der Pfarrvilla aufgestellt worden. Als Dank an die Unterföhringer, dass sie es den Flüchtlingen von damals in den vergangenen Jahrzehnten dann doch noch leicht gemacht haben, sich heimisch fühlen zu können. Losert ist heute ein waschechter Unterföhringer; er kennt fast jeden und ihn kennt fast ein jeder im Ort. 2010 wurde er mit der Bürgermedaille ausgezeichnet, der höchsten Ehrung, die die Gemeinde zu vergeben hat. Engagiert in vielen Vereinen und kommunalpolitisch interessiert ist er bis heute. Losert gehört zu den Gründungsmitgliedern der Parteifreien Wählerschaft (PWU) und ist Ehrenvorsitzender des Krieger- und Soldatenvereins. Bekannt ist Kurt Losert für seine Schönschrift: Karten, Plakate und Urkunden gestaltet er kunstvoll, ein besonderes Talent, das viele Vereine gerne in Anspruch nehmen, seine Familie schätzt diese Gabe ebenfalls. Seine Frau, seine beiden Kinder und seine Enkel bedeuten ihm alles.

Die Enkelkinder waren es auch, die ihm mit ihren Fragen die Geschichte seiner Kindheit und Jugend und Flucht entlockten, wie Losert sagt. Die eigenen Kinder, der Sohn und die Tochter, hatten offenbar Scheu. Oder der Vater hat wie so viele seiner Generation nicht recht darüber sprechen wollen oder können. Kurt Losert betont, wie wichtig es ist, die Erinnerung an diese dunkelste Zeit der deutschen Geschichte aufrechtzuerhalten. Gerade jetzt, da Rechtspopulisten hetzen und Unwahrheiten erzählen, sei es von Bedeutung, mit jungen Leuten zu reden.

Kurt Losert hat das getan. Im April 2017 war er zu Besuch in einer Münchner Realschule, um als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs den Zehntklässlern von diesem Unglück zu erzählen. Den Bericht in der Schülerzeitung über diesen Tag hat Losert aufbewahrt. "Nach einem Gruppenfoto bedankt er sich bei unserer Klasse, dass wir so viel Interesse gezeigt haben und so still waren. Es war eine herzzerreißende, aufregende und besonders lehrreiche Erfahrung, die Lebensgeschichte eines Zeitzeugen zu hören, von denen es leider nicht mehr viele gibt, und einem Bericht zu lauschen über einen sinnlosen Krieg, ohne wirkliche Gewinner, der hoffentlich der letzte dieses Ausmaßes war", heißt es darin. Auch für ihn selbst sei das Gespräch in der Klasse eine besondere Erfahrung gewesen, sagt Losert. Vor allem für junge Menschen sei es entscheidend zu wissen, was am wichtigsten ist: Versöhnung.

© SZ vom 01.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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