Einfach nur anders (4): Michael Fodermaier:Die andere Welt des Alltags

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Er kann alle Autokennzeichen Deutschlands auswendig - aber mit Messer und Gabel essen musste er sich hart erarbeiten. Michael Fodermaier ist Autist. Dabei ist die Krankheit gut therapierbar - wenn sie erkannt wird.

Simone Sälzer

Ihre Lebensgeschichten sind unterschiedlich: Sie sind arbeitslos, obdachlos, süchtig oder einsam. Doch sie haben eines gemeinsam - in der Gesellschaft haben sie keine Lobby. In einer Serie porträtiert sueddeutsche.de Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen und "einfach nur anders" sind.

Michael Fodermaier ist Autist. In der Schule wurde er immer gemobbt. Jetzt hat er in einem Münchner Rehabilitationszentrum Freunde gefunden. Dort geht er auch seiner Leidenschaft, dem Malen, nach. (Foto: Simone Sälzer)

Michael ist bedrückt. Die anderen Kinder haben den Jungen mit den dunklen Locken einfach stehen lassen. Der Vierjährige wollte Asterix und Obelix spielen. Doch das interessiert sie nicht. Die Kinder sind genervt von Michaels Rollenspielen. Sie widmen sich lieber den Bauklötzen. Michael aber weiß mit den bunten Spielsachen nichts anzufangen. Er ordnet sie lediglich nach Größe und Form. Dass er damit spielen soll, versteht er nicht. Er legt lieber Puzzle mit 500 oder 1000 Teilen. Und er malt - jeden Tag stundenlang.

15 Jahre später sitzt Michael Fodermaier, inzwischen 19 Jahre alt, hochkonzentriert über einem weißen Blatt Papier. Am linken oberen Bildrand zeichnet er mit Bleistift feine Verästelungen eines Baumes. Er streicht sich die dunklen, langen Locken aus dem Gesicht, wendet seinen Blick immer wieder auf das Bilderbuch. Dort ist eine Krähe abgebildet, die in einem Baum inmitten eines chaotischen Nestes lebt. Die ersten Striche, die er auf das Papier malt, entsprechen exakt der Vorlage.

Michael Fodermaier ist Autist - und er ist nicht allein mit seiner Krankheit. Rund 0,6 Prozent eines Geburtenjahrgangs sind autistisch. "6 von 1000 Kindern, das ist eine relativ hohe Zahl", sagt Nicosia Nieß, die Vorsitzende von Autismus Oberbayern. Dennoch wird die Krankheit häufig erst spät diagnostiziert, mitunter auch erst in der Pubertät. "Autismus ist eine unsichtbare Krankheit", sagt Nieß. "Die Diagnose kann nicht auf Grund einer einfachen medizinischen Untersuchung wie des Blutes gestellt werden, sondern muss über einen längeren Beobachtungszeitraum erfolgen." Bei Autismus handelt es sich um eine angeborene Entwicklungsstörung. Betroffen sind die Gene des Kindes, die in der frühen Schwangerschaftsphase die Hirnentwicklung steuern.

"Ich dachte immer, ich sei blöd"

Auch bei Michael Fodermaier wurde die Krankheit lange nicht entdeckt. "Ich fühlte mich anders, aber ich wusste einfach nicht warum", erinnert sich der 19-Jährige. Vor fünf Jahren bekommt er endlich die Antwort auf seine Fragen: "Ich dachte immer, ich sei blöd, aber ich war nur Autist", sagt er nüchtern. Und fast huscht ein Lächeln über sein Gesicht. "Ich komme einfach mit dem Alltag nicht so klar wie andere, das ist alles."

Die Diagnose ist für Michael und seine Mutter kein Schock, sondern eine Erleichterung. "Es war ein großer Aha-Effekt, endlich konnte ich Michaels Anderssein einordnen", sagt Brigitte Wölfl. Michael lernt als Kind alle Autokennzeichen Deutschlands auswendig. Er weiß, an welchem Tag sie was gegessen hatten und welche Jacke welche Knöpfe hat. Er sieht sofort, ob jemand Rechts- oder Linkshänder ist, fragt jeden nach der Größe. Die Folge: Mit seiner ungewöhnlichen Art bleibt Michael Außenseiter. Im Kindergarten ist er Einzelgänger, in der Schule wird er gemobbt. Michael kann nicht zwischen Spaß und Ernst unterscheiden, nimmt jeden Scherz für bare Münze - und wehrt sich nicht.

Probleme hatte er auch mit den ungeschriebenen Gesetzen des Alltags. An die Türe anklopfen, mit Messer und Gabel essen, sich nicht vordrängeln - was für andere selbstverständlich ist, musste er sich hart erarbeiten. Ein herannahendes Auto kann er nicht einschätzen, auch sich die Schnürsenkel zu binden, fällt ihm schwer. Ein Nicken kann er nicht einordnen, ein Lachen nicht deuten. "Wir Nicht-Autisten leben zwischen den Zeilen, der Autist nur auf der Zeile", sagt Brigitte Wölfl. "Er macht nichts aus dem Bauch heraus, muss sich permanent auf den Alltag einstellen."

Die gebürtige Münchnerin hat sich mit ihrem Sohn verabredet, als sie sich treffen streicht sie ihm kurz über die Wange. Beide verstehen sich gut, wirken fast wie eine Einheit, sprechen offen und locker über Michaels Autismus.

Plötzlich klingelt Michaels Handy. Seine Freundin Kati ist dran, sie verabreden sich für den Abend. "Wir haben uns vor einem Jahr in der Schule kennengelernt. Sie ist auch Autistin, versteht meinen Humor." Michael geht gern in die Kneipe, spielt mit seinen Freunden, die überwiegend Autisten sind, Bowling, sie sehen sich gemeinsam eine DVD an oder hören Musik. Er liebt die Band STS, deshalb hat er sich extra die Haare wachsen lassen. "Ich wollte so aussehen wie deren Sänger Schiffkowitz."

"Wenn jemand Autismus hört, denkt er sofort an den Film Rain Man", bedauert Michaels Mutter. In dem amerikanischen Filmdrama verkörpert Dustin Hoffman einen Parade-Autisten: Ein Mensch, der Panik bekommt, wenn er keinen geregelten Tagesablauf hat. Ein Mensch, der innerhalb weniger Stunden ein Telefonbuch auswendig lernt oder auf einen Blick die genaue Anzahl einer Packung Zahnstocher bestimmen kann. Ein Mensch, der gefühllos wie ein Roboter reagiert und bei Umarmungen einen Anfall bekommt. Eine solche Form des Autismus ist relativ selten, die meisten Betroffenen bewegen sich in einem Mittelfeld.

Michael ist weder ein Junge unter einer Glashaube noch hochintelligent. Deswegen fischen auch die Therapeuten bei ihm jahrelang im Trüben. Er hat als Baby keinerlei Berührungsängste, sucht immer die Nähe von Menschen. Erst als er drei Jahre alt ist, merkt seine Mutter, dass etwas nicht stimmt. Er spricht in der dritten Person, kann Arme und Beine nicht richtig koordinieren.

Erst die Diagnose bringt die große Wende in Michaels Leben: Er lernt in einem Sozialtraining die Situationen des Alltagslebens besser einzuschätzen. Er ist nicht mehr beleidigt, wenn etwas nicht so funktioniert, wie er sich das vorstellt. Er entschuldigt sich, wenn er etwas falsch gemacht hat und bittet um Hilfe, wenn er etwas nicht versteht. Und er wechselt auf die Körperbehinderten-Schule im Münchner Stadtteil Harlaching. Dort lernen bereits mehrere Autisten, die Lehrer haben also Erfahrung. "Das Wichtigste für mich ist aber, dass ich jetzt endlich Freunde gefunden habe", sagt Michael.

"Seine Bilder sind unglaublich"

Menschen wie er selbst - oder doch nicht? Es gibt viele Ausprägungen des Autismus. Manche Betroffene müssen gewickelt und gewaschen werden, andere schaffen sogar den Weg an die Uni. Heilbar ist die Krankheit zwar nicht, sie bleibt eine lebenslange Beeinträchtigung. Aber Autismus ist sehr gut therapierbar. Michael geht beispielsweise zum Sozialtraining und zur Sprachförderung.

Wichtig ist für ihn auch die Stiftung Pfennigparade, ein Münchner Rehabilitationszentrum für Menschen mit Behinderung. Michael hofft auf einen Arbeitsplatz in einer Malgruppe des Zentrums. "Am liebsten zeichne ich mit Bleistift, Zeichentusche und Acryl", sagt er. Eine normale Ausbildung kann er zwar nicht bewältigen, doch Künstler wollte er schon als Kind werden. Wenn Michael malt, ist er in einer anderen Welt. Und er erntet er bewundernde Blicke. "Seine Bilder sind unglaublich", sagt Lydia König, die Leiterin der Malwerkstatt. "Ich hoffe sehr, er bleibt uns erhalten."

Autismus Oberbayern, Vereinigung zur Förderung von autistischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen; Ansprechpartnerin ist Dr. Nicosia Nieß, Tel.: 089/74654194, Fax: 089/74654195, Mail: mail@autismus-oberbayern.de .

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