Diskussion:Werte im Wandel der Zeit

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Diskussionsrunde in Haar: Moderator Norbert Göttler, Imam Benjamin Idriz, Assunta Tammelleo, Klaus-Peter Jörns, und Claudia Pfrang (von links). (Foto: Privat)

Bei einer Diskussion im Kleinen Theater in Haar setzen sich Religionsvertreter und eine Atheistin mit der Frage nach dem Glauben in der modernen Gesellschaft auseinander. Es bleibt ein Appell an Toleranz und gegenseitigen Respekt

Von Julia Fietz, Haar

Eine Gesellschaft kann nicht bestehen ohne einen Konsens ihrer Mitglieder, einen kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Mehrheit einigen kann. Es bedarf einer Einigung über gemeinsame Werte, über Vorstellungen vom guten und richtigen Handeln. Die Religionen bieten seit Jahrhunderten einen solchen Wertekatalog an. In Zeiten wie diesen, in denen alles schneller, unsicherer und brüchiger zu werden scheint, greifen viele auf diesen Lebenskompass zurück. Auf der anderen Seite stehen die steigenden Kirchenaustrittszahlen und verbreitete Ablehnung von religiösem Dogmatismus. Brauchen wir als Gesellschaft noch religiöse Werte? Über diese Frage diskutierten am Sonntag im Kleinen Theater in Haar eine Katholikin, ein Protestant, ein Imam und eine Atheistin.

Was auf den ersten Blick aussehen mag wie der Anfang eines Witzes, entwickelte sich zu einer angeregten Diskussion. Assunta Tammelleo, stellvertretende Vorsitzende im Bund für Geistesfreiheit München, brachte ordentlich Schwung in die Runde der Religionsvertreter, die sich im Kern meist einig waren. Die Atheistin sagt von sich selbst, sie sei ungläubig geworden durch die Lektüre der Bibel. "Man opfert sein Recht auf Selbstbestimmung, auf Individualität und Lebensfreude", so Tammelleo. Sie zählte eine Reihe von Kritikpunkten an den großen Weltreligionen auf, angefangen bei religiös motivierter Gewalt bis hin zu deren oft zweifelhaften Rolle in Wissenschaft und Forschung, bei Frauenrechten und Missbrauchsfällen. "Dankenswerter Weise sind wir eine Republik mit einer der besten Verfassungen der Welt", betonte die Autorin. Dieser und der UN-Charta der Menschenrechte sei nichts mehr hinzuzufügen. "Nicht-Glaube" sei eine Folge der Beschäftigung mit den Werten der Welt. Von religiösen Werten fühle sie sich bevormundet, auch wenn sie akzeptiere, dass sich andere von ihnen leiten ließen.

Imam Benjamin Idriz aus Penzberg ging kaum auf die Kritik seiner Vorrednerin ein und betonte, dass sie beide wahrscheinlich nie von ihren jeweiligen Standpunkten abrücken würden. "Trotzdem müssen wir uns gegenseitig achten und die Meinung des anderen respektieren". Glaube sei sinnvoll für heutige Gesellschaften, wenn er seine beiden Grundprinzipien, nämlich Vernunft und gute Taten, nicht außer Acht lasse. Glaube ohne Ratio verursache Katastrophen wie den Islamischen Staat (IS), ein Produkt der Religion ohne Seele, Liebe, Vernunft und Respekt.

An Idriz gingen später die kritischsten Nachfragen, vor allem bezüglich seiner Aussage, dass gute Taten nur sinnvoll seien durch den Glauben an Gott und das Paradies als folgende Belohnung. Er tue Gutes, um Dankbarkeit zu zeigen gegenüber Gott, der dann über das Paradies entscheiden könne, sagte Idriz kurz darauf abmildernd. Als ein Zuhörer vehement die Todesstrafe für Homosexuelle in manchen islamischen Ländern ansprach, wurde es kurzzeitig unruhig. Der Imam schien zunächst unsicher in seinen Antworten zu sein und wehrte die Frage dann mit dem Hinweis auf die Thematik der Veranstaltung, bei der er als Person und nicht als Vertreter der besagten Länder säße, schließlich mehr oder weniger ab.

Claudia Pfrang, katholische Theologin und Mitdiskutierende auf dem Podium, unterstützte Idriz und betonte, zwischen Werten und fest umrissenen Normen müsse hier unterschieden werden. Bei der Frage nach dem Wert von Religion für die heutige Gesellschaft hält sie es mit Habermas, der meinte, eine säkulare Gesellschaft sei auf Religion angewiesen, um sich einen Sinn von Humanität zu bewahren. Humanitäre Werte seien in der Gesellschaft fest verankert, nur finde ihre Vermittlung heute nicht mehr über die Kirchen statt, so Pfrang. "Religion ist von der Mitte an den Rand der Gesellschaft gewandert, aber mehr denn je in ihrem Fokus", betonte die Direktorin der Stiftung Bildungszentrum der Erzdiözese München und Freising.

Die große Herausforderung für die Religionen sei es, auf den Wertewandel der Gesellschaften zu reagieren. Klaus-Peter Jörns, der Protestant in der Runde, konnte ihr da nur zustimmen. "Das Leben und wir sind evolutionär immer im Wandel, eine Festsetzung auf Stillstand ist gegen das Leben". Zwar änderten sich die Vorstellungen darüber, was den Menschen heilig sei, gleichzeitig gebe es aber auch Fixpunkte, die gleich blieben. Die heutigen Religionen müssten sich an den Menschenrechten orientieren und ausrichten.

Toleranz für andere Ansichten, Respekt und kein absoluter Wahrheitsanspruch - auf diese Werte konnten sich am Ende alle Teilnehmer einigen.

© SZ vom 14.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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