Aschheim:Menschenwürde versus Menschenrettung

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Der Richter (Johannes Brandrup), Oberstleutnant Lauterbach (Peter Donath), Nebenklägerin und Staatsanwältin (Tina Rottensteiner, Annett Kruschke). (Foto: Angelika Bardehle)

Darf man den Tod einiger in Kauf nehmen, um den Tod vieler anderer zu verhindern? Solchen und anderen moralisch-rechtlichen Fragen widmet sich Ferdinand von Schirachs Stück "Terror", das in Aschheim das Publikum begeisterte

Von Udo Watter, Aschheim

Der adrette Mann in Uniform wirkt seiner Sache sehr sicher. Er hat seine Entscheidung nicht aus einem unreflektierten Instinkt heraus getroffen, sondern überzeugt von ihrer Richtigkeit. Eine Entscheidung, die 164 Menschen das Leben kostete. Lars Koch, Major der Luftwaffe, sitzt im Zeugenstand, angeklagt des vielfachen Mordes. Er hat mit seinem Kampfjet ein Zivilflugzeug der Lufthansa abgeschossen, das von einem mutmaßlich islamistischen Terroristen entführt worden war. Der Terrorist hatte gedroht, das Flugzeug in der Münchner Fußball-Arena, während des Länderspiels Deutschland gegen England, zum Absturz bringen. Koch verhinderte das Attentat auf 70 000 Menschen, indem er 164 unschuldige Menschen tötete. Aber waren sie wirklich völlig unschuldig? Der von Christian Meyer verkörperte Major Koch - formschöne Glatze, klug, beherrscht - entgegnet der Staatsanwältin auf ihre Vorwürfe hin: "Sie müssen die Sache ganz anders sehen. Die Zivilisten sind zum Teil einer Waffe geworden. Und gegen diese Waffe muss ich kämpfen." Doch sie lässt diese Argumentation nicht gelten, im Gegenteil: "Ist es nicht so, das Sie damit den Passagieren das Menschsein absprechen, wenn wir sie nur noch als Teil einer Waffe sehen?" In diesem Rededuell zwischen Koch und der von Annett Kruschke verkörperten Staatsanwältin verdichtet sich viel von der Problematik, die "Terror", das 2015 uraufgeführte Justizdrama Ferdinand von Schirachs, so faszinierend und moralisch delikat macht.

Der Clou des Stücks, mit dem am Samstag die neue Spielzeit im Kulturellen Gebäude Aschheim eröffnet wurde: Es bindet das Publikum in die Rechtsfindung ein, macht die Zuschauer zu Schöffen, die entscheiden, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist. Major Koch - Held oder Verbrecher? Nachdem im Gerichtssaal die Argumente ausgetauscht, Zeugen wie Oberstleutnant Lauterbach gehört sind, die Plädoyers gehalten, gibt es eine Pause. Bei der Rückkehr in den Saal müssen die Zuschauer zwischen einem mit "Schuldig" und einem mit "Unschuldig" beschrifteten Eingang wählen. Danach entscheidet sich, wie das Stück weitergeht. Es ist keine leichte Entscheidung, denn beiden Sichtweisen wohnt viel Überzeugungskraft inne. In Schirachs Stück geht es um große, nie endgültig zu beantwortende Fragen: Darf man den Tod einiger in Kauf nehmen, um den Tod vieler anderer zu verhindern? Leben gegeneinander aufwiegen? Nimmt man den wehrlosen Opfern mit dem Abschuss ihre Menschenwürde? Oder gibt es andererseits einen übergesetzlichen Notstand? Eine Situation, in der die Prinzipien unserer Demokratie außer Kraft gesetzt werden? Als Zuschauer überkommt einen schnell die erschreckende Erkenntnis, dass hier Gut und Böse, Recht und Unrecht schwer zu trennen sind, dass es moralische Dilemmata voller Fallstricke gibt. Johannes Brandrup, der den Vorsitzenden Richter stark mit sachlicher Schärfe spielt, gibt dem Publikum den wichtigen Rat: "Bleiben Sie bei ihrem Urteil selbst Menschen."

Das kluge Stück lebt besonders vom Diskurs, nicht von dramaturgisch packenden Szenen und Tempo. Das Gericht als theateranaloges Ambiente, in dem die Tat "mit der Sprache nachgespielt" wird, ist unspektakulär: drei Pulte, ein Stuhl plus Tischen für den Zeugen - mehr braucht es nicht als Bühnenbild. Regisseur Thomas Goritzki versucht in seiner Inszenierung auch nicht, den Protagonisten exzentrische Charakteristika zu verleihen. Das Drama steuert angenehm unprätentiös auf seine Klimax zu, im Vertrauen auf den Plot und seine Herausforderungen für Hirn und Herz - und wartet zu Beginn sogar mit komödiantischen Einlagen auf, für die der Verteidiger (Christian Schlemmer) verantwortlich zeichnet. Ein textlastiges Stück wie "Terror" ist besonders abhängig von einem guten Schauspiel-Ensemble, und das präsentierte sich in Aschheim sehr überzeugend. Annett Kruschke mag in ihrem Abschlussplädoyer ein bisschen arg gefühlsbetont agiert haben, aber generell war es fesselnd, ihr zu folgen. Christian Meyer als Angeklagter, der den Abschuss befehlswidrig ausgeführt hatte, hält der Staatsanwältin entgegen, dass er sich dort oben keine Gefühle und schönen Gedanken leisten konnte, denn er musste handeln. "Gott sei Dank hat sich Lars Koch nicht nach Prinzipien gerichtet und nur nach dem, was richtig war", sagt sein Verteidiger. So dachte auch das Publikum im Aschheimer "Kulti", das den Major mit großer Mehrheit für unschuldig erklärte. Das Argument des übergesetzlichen Notstands oder der dem Menschenverstand einleuchtende Abwägungs-Entschluss, mögen entscheidend dafür gewesen sein. "Herr Koch hat 70 000 Menschen gerettet. Dafür musste er 165 Menschen töten." Gleichwohl ist es eben doch nicht so einfach, und das macht das Drama von Schirach - selbst ehemaliger Strafverteidiger - so fruchtbar: Bewegen sich Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit in unterschiedlichen Sphären? Was zählt mehr? Freiheit oder Sicherheit? Ist das Gesetz immer bindend? Ist die Verfassung immer klüger? Wie anfällig sind unsere Begriffe? Lars Koch war sich seiner Sache sicher.

© SZ vom 26.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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