100. Geburtstag:"Eine Ausnahme in der Familie"

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Erika Wünsch wurde in Oberschlesien geboren und lebt seit 1988 in Siegertsbrunn. (Foto: Angelika Bardehle)

Erika Wünsch aus Höhenkirchen-Siegertsbrunn ist immer noch fit - erst vor einem Jahr zog sie ins Seniorenzentrum

Von Michael Morosow, Höhenkirchen-Siegertsbrunn

Die Eltern ließen das Baby auf den Namen "Erika" taufen, sehr gut gepasst hätte freilich auch "Irene", die Friedensgöttin. Als Erika Wünsch am Nachmittag des 11. November 1918 in Gröndorf, Kreis Oppeln, im damaligen Oberschlesien zur Welt kam, wurde das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne zwischen dem Deutschen Reich und den beiden Westmächten Frankreich und Großbritannien geschlossen. Nie habe sie gedacht, einmal 100 Jahre alt zu werden, sagt die Jubilarin, zumal sowohl Mutter und Vater wie auch ihre beiden Brüder und ihre Schwester, allesamt korpulent, kein hohes Alter erreicht hatten. "Ich bin eine Ausnahme in der Familie, und ich war immer schlank", sagt die vierfache Groß- und siebenfache Urgroßmutter, die nie rauchte, kaum Alkohol trank und sich zudem mit Gymnastik und Radfahren fit hielt. Vor drei Jahren hat sie selbst einen Oberschenkelhalsbruch überstanden. In ihrer Wohnung in Siegertsbrunn sei sie über das Staubsaugerkabel gestolpert, erzählt Erika Wünsch.

Erst vor einem Jahr ist sie ins Seniorenzentrum "Wohnen am Schlossanger" im gleichen Ort umgezogen. Hier fühle sie sich wohl, sagt die Langschläferin, die regelmäßig als Letzte zum Frühstück erscheint. Auch wenn alles zunehmend beschwerlich werde. "Ich habe ein erfülltes Leben gehabt, irgendwann ist Schluss", sagt Wünsch. So segensreich ein hohes Alter ist, es bringt auch Einsamkeit mit sich. Ihr Mann ist vor 41 Jahren gestorben, auch alle ihre Geschwister und Bekannten sind tot. "Ich habe jetzt keinen Menschen in der Verwandtschaft mehr, den ich fragen könnte, wie das damals war", sagt sie. Ihre 74-jährige Tochter und ihr 70-jähriger Sohn, ehemals Rektor an der Grundschule Neubiberg, seien zu jung dafür.

Mit "damals" meint Erika Wünsch ihre Jugendzeit, die sie mit ihrer Familie in Oberschlesien verbrachte, das in dieser Zeit unter polnischer Verwaltung stand. Hier ging sie zur Grundschule, in der ihr Vater unterrichtete, später auf ein humanistisches Gymnasium. In der Grundschule sei zwei Klassen über ihr der spätere Kampfflieger Hans-Ulrich Rudel gesessen, den ihre Mutter aber gar nicht habe leiden können. In Oberschlesien lernte sie auch ihren späteren Mann kennen, der eine Weberei führte, während sie selbst sich als Hauswirtschaftslehrerin verdingte. Erst 1957 durfte die Familie in die noch relativ junge Bundesrepublik auswandern. Erst 1988, ihr Mann war schon lange gestorben, zog sie nach Siegertsbrunn.

Bürgermeisterin Ursula Mayer war am Festtag zum Gratulieren da, von Ministerpräsident Markus Söder bekam sie eine Silbermedaille und mit Kindern, Enkeln und Urenkeln feierte sie in einem Ayinger Wirtshaus. Ob da auch über ihren ersten Kuss gesprochen wurde? 14 Jahre alt sei sie gewesen, und die Eltern durften ja nichts wissen, "da hat mich ein Junge aus dem Gymnasium im Mondenschein geküsst", erinnert sich die Jubilarin. Noch heute achtet sie penibel auf ihr Aussehen; jeden Freitag kommt der Friseur zu ihr. Jetzt aber hat sie keine Zeit mehr - um 16 Uhr beginnt im Keller des Seniorenzentrums ein Kinofilm.

© SZ vom 21.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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