Kritik:Stille Feier der Musik

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Das Theater Regensburg beendet seinen Spielbetrieb mit einer imposanten Geisteraufführung, die auch in die Zukunft des Genres Oper weist: Die Gebrüder Teichmann unterlegen Monteverdis "L'Orfeo" mit Techno, das Kollektiv "Hauen und Stechen" macht daraus ein überbordendes Erlebnis

Von Egbert Tholl

Neben der Eingangstür des Velodroms in Regensburg hängt ein Zettel. "Leider keine Premierenfeier im Anschluss" steht darauf. Premiere ist aber schon, und man könnte nun darüber nachdenken, ob deren Feier im Internet stattfindet, dort, wohin die Aufführung gestreamt wird. Hält man sich an die wenigen realen Menschen, die diese höchst seltsame Premiere besuchen, stellt sich erst einmal folgende kleine Enttäuschung ein: Hatte man erwartet, wie dereinst König Ludwig II. einer Privataufführung einer Oper beizuwohnen, so sieht man sich auf dem Balkon des Velodroms umgeben von einigen Kollegen und von den Technikern, die sich um den Livestream und die Aufführung selbst kümmern, während unten im Parkett eine Schar Hausangehörige Platz genommen hat. Insgesamt fühlt sich die Premiere also eher an wie eine Generalprobe, allerdings eine mit vollem Applaus, also muss es doch die Premiere sein, denn nach der Generalprobe klatscht man im Theater nicht, weil sonst die Premiere schief gehen würde, das ist so ein alter Aberglaube.

Freilich: Auch ohne der virusbedingten Sondersituation, auch ohne das irritierende Gefühl, zum letzten Mal für wohl lange Zeit eine Opernpremiere mitzuerleben, wäre die Aufführung ungewöhnlich genug. Seit Jens Neundorff von Enzberg Intendant des Regensburger Stadttheaters ist, hat er das Repertoire kontinuierlich erweitert bis hin in Regionen, in die zu folgen kaum ein vergleichbares Haus den Mut hätte. Verbunden ist dies mit einer bewundernswerten Akzeptanz beim Publikum, das offenbar keineswegs ständig die großen, alten Opernschinken vorgesetzt kriegen möchte. Bei der vorliegenden Geisterpremiere nun handelt es sich zwar um einen der ältesten dieser Schinken überhaupt, um Monteverdis "L' Orfeo", aber so, wie dieser hier dargereicht wird, hat man das auch noch nicht erlebt. Neundorff brachte das Theaterkollektiv Hauen und Stechen mit den Gebrüdern Teichmann zusammen. Die Teichmanns machen Technomusik, Hauen und Stechen garantieren ungewöhnlichste Inszenierungslösungen.

Nur was in diesem Fall die Akzeptanz betrifft, lässt sich wenig sagen, weil ja nur etwa 30 Menschen sich bezüglich dieser äußern können. Was im Gesamtgefühl der Aufführung auch deutlich die Grenzen der Liveübertragung von zuschauerlosen Aufführungen ins Internet aufzeigt. Ohne zu wissen, wie das Ganze im Netz wirkte, kann man als Besucher der Vorstellung konstatieren, dass das ganz entscheidende Theatermoment, das gemeinsame Erleben, das Zeitverbringen mit anderen in einem Raum, deutlich fehlt. Und mithin die nun vielerorts geplanten Übertragungen nichtöffentlicher Veranstaltungen nicht mehr als ein fragmentarischer Behelf sein können. Einen Gottesdienst schaut man sich auch nur dann im Fernsehen an, wenn es nicht anders geht.

Nun zum Kern von "M'Orpheo", so heißt das Ding hier. Um eines gleich zu sagen: Ist die Aufführung vorbei, würde man sie am liebsten gleich noch einmal sehen, weil man erst im Verlauf ihrer drei Stunden beginnt zu kapieren, in welch überbordendes Panoptikum man da hineingeraten ist. Und gleich noch etwas: Hätten Julia Lwowski und Franziska Kronfoth, die beiden für die Regie verantwortlichen Damen von Hauen und Stechen, eine Winzigkeit mehr Gespür für Tempo, und würde Tom Woods das dennoch imposant aufspielende Philharmonische Orchester Regensburg nicht so lahmarschig dirigieren, der Abend wäre unzweifelhaft ein Meisterwerk. Das leichte Zögern mag durchaus der extraordinären Situation geschuldet sein und tut der Wucht des Erlebnisses dann letztlich auch nur in (allerdings entscheidenden) Nuancen Abbruch.

Zu Beginn zieht eine leicht durchgeknallte Hochzeitsgesellschaft von der Straße her ins Theater ein. Dort trifft man auf Edgar Wiersocki, der von einem Turm aus die erlesene avantgardistische Elektronik der Teichmanns zuspielt, verschiedene Videoleinwände, ein Beduinenzelt, hinter dem sich, bis es in die Unterwelt geht, das Orchester versteckt und drei Orfeen: Den leider manchmal singenden, sonst höchst mitreißenden Performer Thorbjörn Björnsson, den kaum weniger irren Counter Onur Abaci, der auch Euridice und Speranza (die Hoffnung) sein kann, und die wie so oft umwerfende, weil mit bester Stimme und untrüglichem schauspielerischem Instinkt und Wagemut ausgerüstete Vera Semieniuk. Als leuchtender Stern eilt die Musik herbei - Sara-Maria Saalmann ist reine Freude, auch als Proserpina, Königin der Unterwelt, und Kore. Kore? Die ist irgendwie Proserpina, nur anders, ist die Tochter der Demeter, und bliebe sie im Austausch für Euridice die ganze Zeit in der Unterwelt, die Jahreszeiten verschwänden und auf der Erde herrschte ewiger Winter.

Die Aufführung gräbt in tiefen Mythenschichten, fördert sie auf aberwitzige Weise zu Tage, man muss nicht jeden Moment unmittelbar verstehen, auch die Kostüme von Yassu Yabara nicht. Pluto etwa ist der große, weiße Hamster des Todes, doch Johannes Mooser ist keineswegs ein alter, weißer Mann, sondern unerschrocken und jugendlich. Überhaupt wirkt die Aufführung wie ein langer Augenblick gemeinsamen Herstellens, der jedes Mal anders sein kann. Die Musik wird gefeiert, Monteverdi und Teichmann schieben sich immer stärker ineinander, der Rausch stellt sich ein. Und auch eine mögliche Zukunft des Genres Oper.

© SZ vom 16.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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