Kritik:Gesten und Gefühle

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Stellte ihre bewegenden "Briefe nach Breslau" im Literaturhaus vor: Maya Lasker-Wallfisch. (Foto: Literaturhaus München)

Live oder Stream - zu den ersten Lesungen im Literaturhaus.

Von Antje Weber, München

Ohne Literatur ist das Leben die Hölle - dieser Satz von Charles Bukowski ist im Erdgeschoss des Literaturhauses auf Englisch zu lesen. Und ohne Literaturbetrieb? Würde dem Leben auch etwas fehlen. Hybride Lesungen, live vor 50 Zuhörern und im Stream abrufbar, bietet das vorübergehend technisch aufgerüstete Literaturhaus daher seit Neuestem an. Wie gut funktioniert das?

Am Anfang kommt ein fieser Ton. Wer in der vergangenen Woche den ersten Stream mit Rolando Villazón am Folgetag abruft - das Ticket ist 24 Stunden gültig -, muss da eingangs durch; das ist auch schon das Einzige, was stört. Der Autor und Sänger, mit rotem Schal vor eine leuchtende Salzburg-Fotokulisse drapiert, ist so hinreißend sprudelnd und expressiv in seiner Gestik, dass man ihm ohnehin gern zuhört, ob analog oder digital. Verschiedene Kameraperspektiven, wechselnde Hintergrund-Fotos und kleine Einspieler sorgen außerdem für optische Abwechslung beim üblicherweise doch eher statischen Vorlesen und Sprechen über Bücher.

Dass das Leben nicht nur fröhlich, sondern die Hölle sein kann, Literatur hin oder her, wird dann an diesem Dienstag bei einem Abend mit Maya Lasker-Wallfisch deutlich. Mit noch ungewohnt wenigen anderen Menschen steigt man zunächst die Treppen zum Saal empor; ein etwas geisterhaftes Gefühl bei aller Exklusivität. Im schütter bestuhlten Saal leuchtet die große LED-Wand diesmal in dezentem Türkisblau, und man kann sich vor Beginn in das Schwarz-Weiß-Foto einer glücklichen Familie versenken: Ein strahlend junges Paar in Breslau hält drei entzückende kleine Mädchen an den Händen. Es sind die Großeltern der Autorin und Psychotherapeutin Maya Lasker-Wallfisch, die für diesen Abend aus London angereist ist; beide wurden von den Nazis umgebracht, die Töchter überlebten Lager wie Auschwitz. Enkelin Maya, die die "Telefonnummer" am Arm ihrer Mutter Anita nicht einordnen konnte und unter dem Schweigen in ihrer Kindheit litt, hat die Familiengeschichte nun in ihrem bewegenden Buch "Briefe nach Breslau" (Insel) aufgearbeitet.

Das ist vor Kameras und im Gespräch mit Autorin Sabine Bode und Agentin Elisabeth Ruge nicht so einfach vorzustellen. Doch die Gratwanderung gelingt, und bei allen klugen Gedanken über den Umgang mit Traumata und auch Antisemitismus geht es nicht nur theoretisch um eine von Bode beschworene "Empathiefähigkeit". Sie ist auch spürbar, insbesondere am Ende, als Lasker-Wallfisch den letzten ihrer Briefe an die unbekannten Großeltern auf Englisch vorliest. Sie blickt dabei immer wieder über ihre Schultern, auf Fotos der beiden. Ein unmissverständliches Bild, eine berührende Geste. Und so steht am Ende ein starkes Gefühl.

© SZ vom 09.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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