Krippenspiel:Freche Räuber und fliegende Engel

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Jedes Jahr denkt sich Annette Steck, Pfarrerin der Erlöserkirche, zu Weihnachten eine neue Variante des Krippenspiels aus. Für die mitwirkenden Kinder wird die Heilsgeschichte so zum anrührenden Erlebnis

Von Stefan Mühleisen

Die Engel könnten auch als die Daltons-Bande aus den Lucky-Luke-Comics auftreten, so wie sie da der Größe nach geordnet auf der Bühne stehen. Wobei der kleinste Engel offensichtlich ein unbekümmertes Naturell hat, anders als der ewig cholerische Joe bei den Cowboy-Brüdern. Der vierjährige Luca, "Engel C" in der Regieanweisung, ist der Lucky Luke unter den Himmelsboten. Während die Engel Pause haben, treibt er sich am Altar herum, reibt sich den Rücken an der Kante wie ein Kater. Doch den Einsatz verpasst er nicht. Den einzigen Satz, den er sagen muss, feuert Luca in der zweiten Szene ab, freundlich, aber bestimmt, in einer Tonlage, mit welcher der Comic-Cowboy wohl eine Limo im Saloon bestellen würde: "Friede sei mit Euch!"

Der Sakralraum der evangelischen Erlöserkirche in Schwabing ist schummrig erleuchtet an diesem Nachmittag Anfang Dezember. 19 Kinder zwischen drei und zehn Jahren sind gekommen, dazu ihre Mütter und Väter. Einige der Kleinen nutzen die Zeit, bis es losgeht, um zwischen den Kirchenbänken Fangen zu spielen; andere probieren, wie ihr Spielzeugauto über den Kirchboden zu rollen vermag. Wieder andere tragen Bühnenteile vor den Altar. Schließlich greift Pfarrerin Annette Steck zum Mikrofon. Die erste Probe für das Krippenspiel kann beginnen.

So läuft das in den meisten der 67 evangelischen und 150 katholischen Münchner Gemeinden und Pfarreien ab. Im Advent laufen allerorten Vorbereitungen für jene Aufführung der Weihnachtsgeschichte, die in vielen Kirchen seit langem an Heiligabend als Teil des Nachmittags-Gottesdienstes über die Bühne geht. Krippenspiele haben eine Jahrhunderte alte Tradition, die auch in heutiger Zeit noch eifrig gepflegt wird. Warum eigentlich?

Fest steht: Über Mitwirkende können sich die Pfarrgemeinden nicht beklagen. "Es gibt eine vermehrte Nachfrage und großen Zulauf zu den Familiengottesdiensten mit Krippenspielen", sagt Stadtdekanin Barbara Kittelberger. Ihre Erklärung: eine Sehnsucht nach Orten, an denen Gemeinschaft gepflegt wird, ein Bedürfnis nach Heimat im urbanen Raum, nach einem Rückzugsort, nach Heil.

Proben für den großen Auftritt: Nyke (li.) und Martha lauschen den Regieanweisungen. (Foto: Stephan Rumpf)

Die biblische Weihnachtsbotschaft erzählt von diesem Heil, von der einfachen Frau Maria, die mit Josef hochschwanger und verzweifelt eine Herberge sucht, schließlich im Stall ihr Kind zur Welt bringt, Gottes Sohn, den Heiland. Eine dramatische Geschichte, die noch an Wucht gewinnt, wenn man sie als Schauspiel erlebt. In früheren Jahrhunderten war das umso ergreifender, als die meisten Gemeindemitglieder Analphabeten waren. Das Krippenspiel führte ihnen vor Augen, dass die heilige Familie arme Leute wie sie selbst waren. Die Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann nannte es einmal "die Freude der Armen und Beladenen an der armen und doch hohen Geburt".

Auch heute noch sind Krippenspiele eine Form der Erlebnispädagogik, um sich den Glauben und seine Rolle in der Gemeinschaft anzueignen. "Jeder hat seinen Platz. Alles ist bunt. Wir sind eine Gemeinschaft", formuliert es Iris Dupper. Die 46-Jährige sitzt in der Erlöserkirche auf einer Kirchenbank und beobachtet ihre Tochter Nyke auf der Bühne. Krippenspiele sind in heutiger Zeit vor allem ein Familienereignis. Das Herz geht auf, wenn die Kinder eine Rolle in der anrührenden Weihnachtsgeschichte spielen - und für die Kleinen ist es ein aufregendes Erlebnis, Akteur am hohen Feiertag zu sein.

Manche, wie die siebenjährige Nyke, sind schon Krippenspiel-Profis; zwei Mal spielte sie einen Hirten, verlegte sich dann auf Engelsrollen, um heuer mit der Weberin Elsa als Hauptfigur zu reüssieren. "Brumm und Summ / munter, munter dreh dich um / Spinne, spinne, gutes Rädchen / summ und brumm", deklamiert sie in angemessenem Singsang. Ihre Weberkollegin Martha, wie alle bei dieser ersten Probe noch in Zivilkleidung, bringt ihren Text nicht so holperfrei heraus. "Das musst du halt dann etwas lebendiger sagen", empfiehlt Pfarrerin Annette Steck.

Die Riege der Engel wartet auf ihren Auftritt. (Foto: Stephan Rumpf)

Seit sieben Jahren wirkt die 49-Jährige an der Erlöserkirche, und jedes Jahr denkt sie sich eine neue Krippenspiel-Variante aus. Sie hält es wie die meisten Gemeinden: Der biblische Text aus dem Lukas-Evangelium wird nicht werktreu szenisch nachgestellt, sondern dient nur als Kern-Narrativ, um ein selbst inszeniertes Stück auf die Bühne zu bringen. Die Spielarten sind kaum überschaubar; im Buchhandel und im Internet finden sich Tausende Texte - gut möglich, dass da auch einer mit Lucky Luke und den Daltons dabei ist.

Belegt für Münchner Kirchen sind Engel, die emsig Stroh-Sterne polieren oder ein Esel, der Maria und Josef fast die Show stiehlt, weil seine Sicht der Dinge erzählt wird. Annette Steck hat sich schon Räuber ausgedacht, die den drei Königen auf dem Weg zur Krippe auflauern und ihnen die Geschenke abluchsen. Es gab eine Aufführung mit einer resoluten Maria, die ihrem Mann beschied: "Josef, mein lieber Sepp, geh' von dieser Türe weg." Die gereimte Versform ist Stecks Spezialität. Dieses Jahr stehen Weberinnen im Mittelpunkt, bei denen ein Prinz einen Teppich als Geschenk für das Jesuskind bestellt hat - doch, oje, die Wolle geht aus. Einsatz für die Engel, die zu den schlafenden Hirten fliegen; diese scheren die blökenden Schafe, bringen die Wolle zu den Weberinnen - und, brumm und summ, wird alles gut.

Das deutet sich drei Tage vor Heiligabend auch bei der nächsten Probe für den Ablauf der Aufführung an, diesmal in vollem Kostüm. Auf den Köpfen der drei Könige, allesamt mit Mädchen besetzt, glänzen die Goldpapier-Kronen, flauschige Engelsflügel werden umgeschnallt, Hirtenstöcke fest umklammert. Überdies sind zum Ensemble noch zwei Schafe gestoßen, in Lammfelle eingehüllte Mädchen, was soll da noch schiefgehen? Martha deklamiert ziemlich lebendig, Maria und Josef schwärmen von ihrem Kind, die Schafe legen sich beim Blöken, die Hirten beim Scheren ins Zeug. Und während die Engel Pause haben, vertreibt sich Luca die Zeit, indem er sich abwechselnd ein Auge zuhält und in die bunten Scheinwerfer schaut. Auf seinem T-Shirt steht "Jolly Cars" und erinnert an die bunten Autos aus dem Disney-Film; man könnte das auch als Reminiszenz an Jolly Jumper lesen, das Pferd von Lucky Luke. Der tiefsinnige Stoff, er wird kinderleicht genommen - da können die Erwachsenen etwas lernen. Oder, wie Pfarrerin Steck analysiert, geflüstert auf der Kirchenbank: Es gehe für die Kinder nicht nur um schöne Erinnerungen und Festtagsstimmung, sondern um Unbeschwertheit, die sich im Krippenspiel ausdrücke. Da ertönt der Einsatz von Engel C. "Friede sei mit Euch!", schallt es durch die Kirche. Es klingt wie ein Wunsch an alle, sich zu umarmen.

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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