Kommentar:Zeit zu trauern, Zeit zu feiern

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Die reihenweise Absage von Kulturveranstaltungen nach dem Amoklauf ist verständlich - aber nicht unbedingt die beste Lösung

Von Karl Forster

Der Reflex ist so eindeutig wie verständlich: Trifft aus der Gemütlichkeit des Alltags eine Katastrophe die Gesellschaft, fühlen sich all jene zur Solidarität mit den Opfern verpflichtet, die nur emotional getroffen sind, also nicht getötet oder verletzt sind. Ja, man ist betroffen, und man ist um so betroffener, je näher die Katastrophe eingeschlagen hat. Offiziell zeigt sich die Betroffenheit, in dem der Staat die Fahnen vor öffentlichen Gebäuden auf Halbmast hissen lässt und seine obersten Repräsentanten zu Gedenkfeiern kommen. Weniger offiziell, aber deutlich spürbarer ist es, wenn, wie in München nach dem OEZ-Amoklauf vom Freitag geschehen, der Oberbürgermeister diversen Kulturveranstaltern empfiehlt, Festivals und Konzerte abzusagen. Der erste Reflex: Ja, natürlich, selbstverständlich. Der zweite Reflex vor allem der Veranstalter: Okay, aber wer hilft mir, wenn irgendwelche engagierten Akteure, die vielleicht nicht so ganz stark betroffen sind, Ausfallgagen oder sonstige Entschädigungen verlangen? Indem Münchens OB die Betroffenheit nur empfiehlt und nicht befiehlt, kann die Stadt auch nicht haftbar gemacht werden.

Das entscheidende Kriterium bei der Bewertung solcher verordneter Betroffenheit aber lautet: Man nimmt dem einzelnen Bürger den Weg zur Betroffenheit ab, indem man ihm das Nachdenken darüber erspart, ob er nun weiterfeiern soll oder nicht. Es hat ja auch die "Jetzt-erst-recht"-Haltung der Franzosen ihre Berechtigung, vor allem, wenn die Katastrophe einen gesellschaftszerstörerischen Hintergrund hat. Und man könnte solche Veranstaltungen, ob "Oben ohne", Tollwood oder auch "Oper für alle" zur intensiven gemeinsamen Trauer nutzen - so diffizil das dann auch für die Sicherheitskräfte sein mag. Ob solche Gedanken bei der Organisation der politischen Gedenkfeier eine Rolle spielten? Wohl nicht, aber vielleicht wäre mit einer dezenten zeitlicher Entzerrung ja doch beides möglich gewesen: offizielles Gedenken im Landtag und gemeinsames Trauern am Max-Joseph-Platz.

© SZ vom 27.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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