Kommentar:Hauptsache, hochschulreif

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Dass es viele Wege zum Abitur gibt, ist gut - weil es so weniger exklusiv ist. Doch dass es immer mehr Abiturienten gibt, hat auch Nachteile

Von Johann Osel

Gut 50 Jahre ist es her, da entfuhr Franz Josef Strauß auf einer Tagung der Satz: "Sagen Sie mal, haben Sie überhaupt das Abitur?" Was bis heute spöttelnd zitiert wird, scheint zu einem Leitsatz der Stadtgesellschaft zu werden. 54 Prozent der Viertklässler in München wechseln aufs Gymnasium, im Landkreis sogar mehr als 60 Prozent (während die Quote zum Beispiel im Landkreis Mühldorf halb so hoch ist). Auch der alternative Weg floriert: Fach- und Berufsoberschulen. Zuletzt zählten diese Schulen in München fast so viele Absolventen wie die Gymnasien. Den Stellenwert von FOS und BOS illustriert jetzt ein großer Neubau an der Schleißheimer Straße. Heute ist quasi die Devise: Hauptsache Hochschulreife!

Es ist gut, dass höhere Schulabschlüsse nicht mehr - wie zu Strauß' Zeiten - eine exklusive Sache sind, nur für Familien mit dickem Portemonnaie; und es ist gut, dass es flexible Wege gibt. Nach dem Grundschulabitur, dem Übertrittszeugnis, sind Kinder nicht für immer in Schubladen gesteckt. Gerade Schüler aus Familien, in denen die Eltern keine Akademiker sind, schätzen FOS und BOS - in München, aber auch bundesweit. Und für Schüler, die am Gymnasium (aus welchem Grund auch immer) scheitern, besteht die Chance, am Ende doch noch im Hörsaal zu sitzen.

Alles bestens also? Nein, der Trend hat auch negative Folgen. Das Duale Berufssystem blutet aus, Flüchtlinge werden die Nachwuchsprobleme in Handwerk, Handel und Industrie nicht gänzlich lösen. Durch mehr BOS-Absolventen gehen gerade die Leistungsspitzen den Betrieben verloren. Wer mit Münchner Azubi-Betreuern spricht, deren Lehrlinge die BOS anstreben, der hört Freude über den Ehrgeiz und im selben Atemzug die Klage, dass die pfiffigsten Mechaniker Ingenieure werden wollen und nicht als Fachkräfte bleiben. Auch FOS-Absolventen nutzen natürlich die Eintrittskarte ins Studium. Falls sie doch eine Lehre machen, tragen sie zum Verdrängungswettbewerb bei. Realschüler, einst hochgeschätzt, stehen bei der Bewerbung um Büro-Berufe mitunter schon im Ruch, dass etwas nicht stimmt mit ihnen. Schließlich habe es nicht zum Abitur gereicht - trotz vielfältiger Wege.

Die abwegige Vorstellung, ohne Hochschulreife seien keine erfolgreichen Biografien möglich, hat die Balance im System verschoben - und wertet so die Mittlere Reife (den Hauptschulabschluss ohnehin) noch weiter ab.

© SZ vom 15.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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