Kommentar:Arme reiche Stadt

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Politik und Ärzteschaft dürfen es nicht länger hinnehmen, dass manche Viertel unterversorgt sind, während es anderswo von Orthopädie-Praxen geradezu wimmelt

Von Thomas Kronewiter

Was soll man von einer Stadt halten, die sich stolz selbst zu den reichsten der Republik zählt und den Boom als Dauerprogramm erlebt - und deren Bewohner sich Sorgen machen (müssen) über die ärztliche Versorgung? Was im Hinblick auf die Kliniksanierung auch im Rathaus am Marienplatz als belastender Kraftakt verstanden wird, gerät mit zunehmender Nähe zur Stadtgrenze zu einem kleinteiligeren, für die Betroffenen aber nicht minder bedrückenden Problem. So kämpft man in der Messestadt Riem nun schon seit Jahren um einen eigenen Kinderarzt für das kinderreiche Viertel, im Hasenbergl wünscht man sich Hausärzte und Orthopäden.

Viele Patienten, kaum Mediziner: Dieses problematische Verhältnis, das sich in Richtung Innenstadt umkehrt, ist für die Älteren, die Kranken und Immobilen nicht bloß eine Frage der Bequemlichkeit. Sie erschöpft sich auch nicht in längeren Wartezimmer-Wartezeiten. Oft stellt sich die Frage, ob ein Arzt, geschweige denn ein Facharzt, überhaupt erreicht werden kann. Und im Gegensatz zur Klinksanierung, die aufgrund betriebswirtschaftlicher Zwänge nicht verschoben werden kann, ist eine gleichmäßigere Ärzteversorgung über das Stadtgebiet lediglich eine Frage des Wollens und der Organisation. Warum müssen in der hippen Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt 21 Orthopäden Praxen haben - und im vermeintlich langweiligen Feldmoching-Hasenbergl nur einer?

Hier bedarf es eines Kraftaktes, zu dem auch die Ärzteschaft im Hinblick auf ihren Nachwuchs beizutragen ein Interesse haben müsste. Denn Klagen über Überlastung, Fließbandabfertigung und den ausufernden Bürokratie-Wahnsinn riesiger Patientenkarteien sind die andere Seite der Medaille. Deshalb liegt die anderenorts bereits praktizierte Idee, Versorgungsbereiche kleinteiliger zu betrachten, also statt einer Überversorgung für ganz München eine Unterversorgung für das Hasenbergl konstatieren zu könne, derart auf der Hand, dass kein Weg daran vorbei führt. Angst um die eigenen Pfründe darf keine Rolle spielen. Andernfalls macht sich die sonst gerne auf ethische Standards pochende Ärzteschaft vollkommen unglaubwürdig.

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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