Kino:Poesie und Protest

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Die Türkischen Filmtage im Gasteig liefern Einblicke in ein großes Land zwischen anatolischer Dorfgemeinschaft, dem rebellischen Brodeln in Istanbul und der Zensur aus Ankara

Von Luisa Seeling

Der kleine Mert wird beschnitten, und damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Prozedur übersteht er mit zusammengebissenen Zähnen, ein kurzer Eingriff, schon ist es vorbei. Doch Merts Eltern sind arm, sie können sich das Lamm nicht leisten, das sie schlachten und den Dorfbewohnern als Festmahl servieren wollen. Medine, die Mutter, verkauft Brennholz; Ismail, der Vater, findet Arbeit in einer Schlachterei. Was er dort verdient, verprasst er bei einer alternden Hure.

"Kuzu - das Lamm", der Eröffnungsfilm der 26. Türkischen Filmtage, erzählt von dem verzweifelten Versuch einer Familie, den Erwartungen ihrer dörflichen Gemeinschaft gerecht zu werden. Auf ein Lamm hofft nicht nur Medine, die Mutter. Auch der kleine Mert versucht, auf eigene Faust eins aufzutreiben. Denn seine Schwester hat ihm eingeredet, dass die Familie stattdessen ihn schlachten werde, wenn sie das Geld für ein Lamm nicht auftreibt. Nun bangt Mert buchstäblich um sein Leben. So grausam das Spiel ist, das die Schwester mit dem kleinen Bruder treibt, so urkomisch sind die Dialoge zwischen den beiden. "Zähl doch Schafe", rät sie ihm herzlos, als er vor Angst nicht einschlafen kann. Oder sie warnt: "Wenn du nicht wegläufst, wirst du Kebab."

"Kuzu" spielt im kargen Hochland Südostanatoliens, der Gegend, aus der auch Regisseur Kutluğ Ataman stammt. Vor 15 Jahren wurde er mit dem Coming-Out-Film "Lola und Bilidikid" bekannt, der sich mit schwuler Subkultur in der Großstadt befasst. "Kuzu" dagegen spielt auf dem Land, vor schneebedeckten Bergen, von der Kamera eingefangen in wunderschön komponierten Bildern. Die Protagonisten stecken in Zwängen fest wie in einer Schraubzwinge: Der kleine Mert hat Todesangst; Medine schämt sich, weil sie das Festmahl nicht ausrichten kann; Ismail, der überforderte Vater, bringt kein Geld nach Hause und betrügt seine Frau. Die Nachbarn sind auch keine Hilfe. Sie beharren auf der Tradition und treiben die Familie in die Enge. Am Ende wird es Medine sein, die den anderen den Spiegel vorhält. Mit einem Plan, so rabenschwarz böse und befreiend, dass den Dorfbewohnern das Kebab im Hals stecken bleibt.

Um Zwänge und um das, was Menschen tun, um ihnen zu entfliehen, geht es auch in einem der Festivalschwerpunkte: Geschichten von Flucht und Migration, wie sie der Spielfilm "Kumun Tadı - Seaburners" erzählt. Hamit, ein Habenichts irgendwo an der türkischen Schwarzmeerküste, schmuggelt nachts Menschen nach Europa. Die einzige Freude seines Alltags ist eine Affäre mit der Botanikerin Denise. Als ein Auftrag Hamits aus dem Ruder läuft und Denise in ihre Heimat zurückkehren muss, trifft der Schleuser eine fatale Entscheidung. Das Debüt von Melisa Önel zeigt die Beziehung von Hamit und Denise in spröden, düsteren Bildern, die wenig Hoffnung auf ein gutes Ende lassen.

Auch der Dokumentarfilm "Nacht Grenze Morgen" von Tuna Kaptan und Felicitas Sonvilla nimmt die Perspektive der Schleuser ein. Eine halbe Stunde lang folgt der Zuschauer den Menschenschmugglern Naser und Ali, der eine Palästinenser, der andere Syrer. Je länger man den beiden zuhört, desto mehr wird klar: Auch sie sind Gestrandete, sind aus Not zu Rädchen geworden in der großen Migrationsmaschinerie. Der Film ergreift Partei; nicht für oder gegen die jugendlichen Schleuser, sondern gegen ein unmenschliches Abschottungssystem an den europäischen Außengrenzen.

Der Dokumentarfilm "Liebe wird die Welt verändern" von Reyhan Tuvi über die Gezi-Proteste im Sommer 2013 sorgte vergangenes Jahr für einen Eklat: Weil die Behörden vor der Aufführung beim Filmfestival in Antalya verlangten, dass eine Passage herausgeschnitten wird, zogen alle anderen Regisseure aus Protest ihre Filme zurück. Der Dokumentarfilmwettbewerb musste abgesagt werden. Reyhan Tuvi hatte 2013 die Demonstranten auf dem Taksim-Platz und in den Gassen von Beyoğlu begleitet. Ihr Film zeigt, wie ganz unterschiedliche Menschen im Protest zusammenfinden, wie sie tanzen und singen. Aber auch, wie sie vor den Gaspatronen der hart durchgreifenden Polizisten fliehen. Demonstranten erzählen mit glänzenden Augen, wofür sie - manche zum ersten Mal in ihrem Leben - auf die Straße gehen. Den Behörden ging diese rebellische Hommage an den türkischen "Summer of Love" offenbar zu weit.

Genauso wie vor ein paar Wochen ein Film, der von kurdischen Rebellen handelt und auf dem alljährlichen Istanbuler Filmfestival gezeigt werden sollte. Die Behörden stellten sich quer - woraufhin mehr als 20 Filmemacher ihre Beiträge zurückzogen, aus Protest gegen die Zensur aus Ankara. Der Wettbewerb musste abgesagt werden. Einer der ersten Filme, die zurückgezogen wurden, war "Nefesim Kesilene Kadar - Until I Lose My Breath", eine Vater-Tochter-Geschichte von Regisseurin Emine Emel Balcı. Auch er wird bei den Filmtagen laufen.

26. Türkische Filmtage, 18. bis 26. April im Gasteig. Infos zum Programm unter www.sinematuerk-muenchen.de

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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