SZ-Serie: Bühne? Frei!:Aus der Tiefe ans Licht

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Der Choreograf Karl Alfred Schreiner ist seit 2012 Ballettdirektor des Gärtnerplatztheaters. In dieser Woche hätte dort die Uraufführung seines Stücks "Undine" stattgefunden. (Foto: Marie-Laure Briane)

Kultur-Lockdown, Tag 12: Es lohnt sich, das Ungewisse zu wagen, findet der Ballettdirektor des Gärtnerplatztheaters

Gastbeitrag von Karl Alfred Schreiner

Alles Leben kam einst aus dem Wasser. Der Ursprung allen irdischen Seins durchschwamm die Untiefen der Meere. Und dennoch ist uns nichts weniger vertraut, nichts unheimlicher als die bodenlose Unergründlichkeit der Weltmeere, in deren unendlichen Wogen fremdartige Wesen leben, Organismen zwischen Tier- und Pflanzenreich, seelenlose Gebilde, Un- und Urgewächse, faszinierend und beängstigend, gleichermaßen lockend und vernichtend.

Und wie das Wasser Wiege allen Lebens ist, so gebar es auch tausendfache Mythen: Legenden von todbringenden Ungetümen, von Meeresgöttern und Stürmebezwingern und auch von seltsam anziehenden, traumhaft verführerischen Halbwesen zwischen Mensch und Wassertier, Traum und Wirklichkeit. Als eines dieser Brückenwesen schwimmt der jungfräuliche Elementargeist Undine durch die Fluten der ewigen Meere - auch sie anziehend und geheimnisvoll, Fantasien zeugend und Wünsche nährend. Doch was wünscht sich Undine? Wonach sehnt sich ein seelenloser Wassergeist? Auf der Meeresoberfläche und an den Gestaden beobachtet sie die Menschen, Fischer und Seeleute, Menschen, die es wagen, sich dem unergründlichen Element auszusetzen. Doch das Treiben der Menschen ist umgekehrt für Undine nicht minder geheimnisvoll und dunkel-faszinierend, ebenso anziehend und bedrohlich. In ihr regt sich eine tiefe Sehnsucht nach Seele, nach Leidenschaft, nach rauschhafter Empfindung, wie sie nur ein Mensch erfahren kann: ein gefährliches Terrain, auf dem zu wandeln Vernichtung bringen kann.

Aber Undine nimmt all ihre Kraft, ihren Mut zusammen und entscheidet sich, aus ihrer elementaren Sicherheit herauszutreten. Sie entsteigt der Tiefe, unterzeichnet das Bündnis mit dem Ungewissen und setzt Fuß auf das Festland. Unter Schmerzen lernt sie, auf zwei Beinen zu gehen, jeder Schritt wie scharfe Klingen in ihre nackten Sohlen, jedes Vorwärtskommen unerträgliche Qual. Doch Undine schreitet weiter, unerschütterlich nach Sättigung ihres Erlebnishungers lechzend. Da begegnet sie einem Mann, einem Menschen aus Fleisch und Blut, aus Körper und Seele. Die gegenseitige Anziehung ist stark und unentrinnbar. Doch Undine verheimlicht ihre wahre Herkunft, sie gibt sich nicht zu erkennen. Das Paar durchzuckt ein schneller Rausch, eine kurze wilde Leidenschaft, wie sie Mahler so meisterhaft in Musik gesetzt hat. Undine empfindet, Undine fühlt, Undine atmet ihre neugewonnene Seele! Doch Undines Geheimnis steht zwischen ihnen, die Liebe kann nicht Wirklichkeit werden: zwei verwandte Seelen, die dennoch nicht verschmelzen können. Ein Sturm zieht auf, das Meer ruft sie zurück, der Liebhaber versinkt und ertrinkt in den Wogen, doch Undines Schmerz wird geläutert im salzigen Meeresschaum. Sie hat sich gewagt, hat Mut bewiesen, sich auf Seele und Empfindung eingelassen, sich dem Schmerz, der Enttäuschung, dem Abenteuer des Lebens gestellt. Das Scheitern quält sie nicht mehr, es hat sie reifer, bewusster und echter gemacht. Gewichtiger als der Schmerz wiegt die Erfahrung, dass die Krisis sie nicht gebrochen hat!

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© SZ vom 13.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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