Isarvorstadt:Der verlorene Zauber des Hexenhäuschens

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"Das war eine Institution im Viertel": In der Isarvorstadt müssen viele liebenswerte Objekte und Hinterhöfe zeitgemäßen Neubauten weichen.

Sabrina Ebitsch

Einmal ist aus dem Spitznamen Realität geworden. "Hexenhäuschen" haben die Nachbarn immer halb spöttisch, halb liebevoll gesagt. Und als wieder mal die Kinder vorwitzig-vorsichtig durchs Tor gelinst haben, hat Karl Pichl sie angesprochen, murmelte etwas von "knusper, knusper, knäuschen", holte seine Nachbarin Doris Stoeck und ließ ihre weißen Haare, ihre unorthodoxe Kleidung und die Drachenfiguren und Masken im Treppenhaus auf die Kinder wirken. Die sind dann schnell wieder gegangen.

Goldene Erinnerung: Die Hinterhöfe zwischen Klenze- und Fraunhoferstraße waren miteinander verbunden (Foto: Foto: privat)

Heute bekommen Kinder keine Gänsehaut mehr, wenn sie die Palmstraße entlang gehen, und finden das wahrscheinlich schade. Das Hexenhäuschen und mit ihm sein Zauber sind Geschichte, abgenagt von gefräßigen Baggern. Pichl und Stoeck und die anderen ehemaligen Hexenhausbewohner sind längst umgezogen.

Es gibt einige solche Beispiele in der Isarvorstadt: Häuser, an denen sich die verbliebene und so seltene Widersprüchlichkeit Münchens kristallisiert. Die durch ihre mangelnde Größe aus der Häuserreihe tanzen. Die nicht geschleckt und saniert sind, sondern schmuddelig und ungepflegt. Die manche hässlich finden und andere gerade deswegen charmant.

Das Häuschen in der Palmstraße 7 war mit Efeu und wildem Wein bewachsen (darunter mausgrau) und einstöckig. Zwei Geschichten gibt es über seine geringe Höhe: Die einen sagen, eine Bombe im Zweiten Weltkrieg habe ihm die oberen Stockwerke weggerissen, nach dem Krieg habe man nur mehr ein Dach aufgesetzt; andere behaupten, das Häuschen sei schon immer nur ein Häuschen gewesen. Auf einer Seite freistehend lehnte es sich auf der anderen an das Nachbarhaus an, das einige Monate nach dem Abriss eine monströse Narbe mit den Umrissen von Hauswand und -dach trägt, als sei ihm etwas amputiert worden.

"Schiache Hüttn"

Das Gefühl haben auch die ehemaligen Mieter. Monatelang habe sie nach dem Abriss die Gegend gemieden, erzählt Doris Stoeck, deren Adresse mehr als 30 Jahre lang "Palmstraße 7" war. Wie bei Liebeskummer. Geliebt haben alle Bewohner das Haus - ihr Haus; denn weil für den Eigentümer klar war, dass es irgendwann abgerissen wird, genossen die Bewohner dort eine für Münchner Mietwohnungen erstaunliche Freiheit.

"Der Deal war: Wir kümmern uns um alles selbst, aber können dafür auch machen, was wir wollen", erklärt Andrea Fischer, die mit ihrem Mann Erich dort wohnte. Das Treppenhaus war bemalt, Stühle standen herum, auf denen die Nachbarn saßen, Rotwein tranken und rauchten. Fischers Sohn hat dort laufen gelernt, hat mit den Nachbarn im Flur Ball gespielt. "Es war schwer, ihm klar zu machen, dass das jetzt nicht mehr geht", sagt seine Mutter.

Wohnungstüren hatten keine Bedeutung, wenn sie nicht ohnehin offen standen, wanderten die Katzen durch die Klappen von Wohnung zu Wohnung. Das ging deswegen, "weil wir immer geschaut haben, dass Freunde einziehen", sagt Doris Stoeck. Über die Jahre entstand so eine große Hausgemeinschaft, die Gartenfeste feierte und Flohmärkte veranstaltete. "Schön, wenn man in einem Haus wohnt, wo jeder jeden kennt", sagt Andrea Fischer.

Dafür nahmen sie auch in Kauf, dass es manchmal reinregnete, dass es im Winter ohne dicke Socken und Pulli nicht auszuhalten war. Jetzt wohnen sie in "normalen" Häusern, die warm und dicht sind, und finden es schade. "Wir haben was gehabt, das kriegen wir nicht wieder, aber das kann uns auch keiner nehmen", sagt Stoeck. Das blaue Emailleschild mit der Hausnummer und dem Straßennamen hat sie sich von den Bauarbeitern noch geben lassen.

Frau Schmidberger vom Salon Schmidberger schräg gegenüber kannte die Hausbewohner alle, wie sie auch sonst in ihrer Eigenschaft als Frisörin fast alle im Viertel kennt. Das Haus selbst sei eine "schiache Hüttn" gewesen: "Schön war's nicht, aber anders. Da ist jeder davor stehen geblieben, weil man so ein Hexenhäuschen ja sonst nicht mehr findet." "Ein Verlust is des net. Des hat halt her g'hört, des war halt da", findet auch Herr Frauenschuh, dem das Haus gegenüber, die Palmstraße 8, gehört, wo er geboren und aufgewachsen ist. Im Hinterhof der Palmstraße 7 hat er seine erste Zigarette geraucht.

Viel mehr vermissen die beiden, Irmgard Schmidberger und Klaus Frauenschuh, das alte Glockenbachviertel mit seinen vielen kleinen Läden. In der Körnerstraße 3 zum Beispiel - auch so ein kleines, "schiaches" Haus - sei früher eine Kohlenhandlung gewesen, erzählen die beiden. Und nebenan war die Wirtschaft von der Maria, wo man die größten, "solche Schnitzel" - Herr Frauenschuh zeigt es mit den Händen - bekommen hat. Und die Hauseigentümerin, die Frau Weber, habe sich noch, bis sie 94 war, jeden Tag mit dem Taxi zum Dallmayr fahren lassen, erzählt Schmidberger: "Das war das ,Weber-Haus', das war ein Begriff im Viertel, eine Institution."

Nachdem Frau Weber tot war, verfiel das zweistöckige Gebäude immer mehr. Die Erben wollten lieber abreißen und verkaufen, das war rentabler. Drei, vier Jahre hat es gedauert, bis alle Bewohner draußen waren - weil die Mieten so billig waren. "Uralteingesessene Glockenbachler", seien das gewesen, sagt Frau Schmidberger, "zu 99 Prozent Kunden von mir". Vor zwei Jahren klaffte dann in der Körnerstraße 3 eine Lücke, jetzt steht dort ein helles, dreistöckiges Haus voller Eigentumswohnungen.

Die sollen auch - deutlich luxuriöser - in der Fraunhofer Straße 11 und der Klenzestraße 40 entstehen. Der Investor wirbt mit "Salbei, Lavendel + Rosmarin - Wohngenuss für alle Sinne". Früher roch es in den Hinterhöfen der beiden Grundstücke, die über Eck verbunden waren, nach Gebäck, Farbe und am Abend nach Gegrilltem. Was hat man den beiden Höfen voller Ateliers, Werkstätten und kleinen Läden nicht alles nachgesagt: dass es dort sei wie in Soho, mindestens aber wie in Berlin.

Eine Ahnung von Hausbesetzertum wie in Berlin habe man bekommen - "auch wenn es was ganz Offizielles war", sagt Christian Hartmann, der ab und an in der Galerie "art:ig" ausstellt und mit den Betreibern Tommi Hallmann und Chryssi Tsiaoussi befreundet ist. Dass das Arbeiten in den Hinterhöfen nur eines auf Zeit war, bis sie neu bebaut würden, war von Anfang an klar. "Aber wir wären nie raus, wenn wir nicht gemusst hätten", sagt Tsiaoussi.

Und obwohl ihr neuer Laden in der Corneliusstraße größer und heller ist und mehr Kundschaft dorthin findet als in den Hinterhof, trauern sie dem ein bisschen hinterher. In den kleinen einstöckigen und Flachbauten auf dem Gelände des einstigen Druckhauses Max Schmidt & Söhne waren untergebracht: "art:ig", die Designer von "Serie A", der Platten- und Klamottenladen "SpielbarTragbar" und der Weinhandel "Traube", um nur einige zu nennen.

"Wie Urlaub" sei es gewesen, sagt Chryssi Tsiaoussi. Zwischen den Häuschen streckten sich Sonnensegel, eine Hollywoodschaukel stand dort und die Tischtennisplatte, auf der tagsüber gespielt wurde, funktionierte man abends zur Tafel um. "Jeder kannte jeden über irgendjemanden", sagt Hartmann.

Heute zahlen Tsiaoussi und Hallmann ein Vielfaches an Miete, obwohl die Räume nicht viel größer sind. "500 Euro kalt und warm haben wir gezahlt", sagt Tsiaoussi. Es gab nur einen kleinen Ofen und keine Toilette.

Einmal haben sie in der Weinhandlung zusammen gefeiert, und das Regenwasser tropfte von der Decke in bereitgestellte Eimer: "Das war auch was Besonderes, nicht so etepetete, so schicki - es muss nicht immer geschleckt sein", sagt Hartmann. Es scheint, als sehnte man sich im schönen, sauberen München gerade nach dem Unperfekten. Hexen sind zwar meistens hässlich, aber können halt auch zaubern.

© SZ vom 20.08.2008/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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