Inklusion:Überall Hürden

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Nicht nur Rollstuhlfahrer ärgern sich über Treppen und hohe Bordsteinkanten, sondern auch Eltern mit Kinderwagen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Holprige Pflaster, enge Toiletten, unerreichbare Bahnhöfe - für Menschen mit einer Behinderung ist der Alltag in einer Großstadt häufig ein Geduldsspiel. Ein Blick auf die Barrieren, die sich in fast allen Lebensbereichen finden

Von Elisabeth Gamperl

Laut einer bundesweiten Umfrage der "Aktion Mensch" halten die Münchner ihre Stadt für die barrierefreieste Großstadt in Deutschland. 41 Prozent der Befragten fanden, dass München viel für Menschen mit Behinderung tut, fast doppelt so viele wie etwa in Köln. Doch wie sieht der Alltag in München tatsächlich aus? Längst nicht immer barrierefrei.

Frustrierende Wohnungssuche

Es wird immer enger in München. Die Mieten steigen, günstige Wohnungen sind rar. Noch schwieriger ist die Suche nach einem passenden Eigenheim für Menschen mit Handicap. Eingänge haben Stufen, Fahrstühle sind zu klein oder es gibt sie gar nicht, von geeigneten Badezimmern ganz zu schweigen. Selbst bei neu gebauten Wohnungen kann man nicht davon ausgehen, dass sie barrierefrei sind. Das werde schlichtweg nicht überprüft, sagt Peter Pabst vom "Club Behinderter und ihrer Freunde" (CBF) in München. "Es gibt Menschen im Rollstuhl, die rutschen mit dem Hosenboden die Treppen hinunter, um vor die Tür zu kommen, nur weil es keinen Lift gibt", sagt der Sozialpädagoge. Viele setzen deshalb ihre Hoffnung auf den sozialen Wohnbau, aber auch dort ist es nicht einfach, einen Platz zu finden. Laut dem CBF warten derzeit zirka 170 Rollstuhlfahrer auf die Zuteilung einer sozial geförderten Wohnung. Wartezeit: Bis zu fünf Jahren. Aus dieser Not heraus bleibt vielen nur der Weg in eine Behinderteneinrichtung oder ein Seniorenheim. Nach offiziellen Zahlen leben laut Pabst derzeit mehr als 100 Behinderte unter Sechzig in Seniorenheimen - die tatsächliche Zahl solcher Fehlbelegungen sei aber weit höher. Die Betroffenen wohnen zwischen pflegebedürftigen Alten, ihnen fehlen soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und eine geistige Förderung. Vom individuellen Bedürfnis, das eigene Leben so zu gestalten, wie man es möchte, ganz zu schweigen.

Geduldsspiel Nahverkehr

Wie komme ich an die Oberfläche? Wo ist der Lift? Wie erreiche ich den gegenüberliegenden Bahnsteig? Eine Fahrt mit S- oder U-Bahn kann für einen Rollstuhlfahrer zu einer enervierenden Odyssee werden - ohne Ortskenntnisse bleibt manches Ziel unerreichbar. Relativ neue U-Bahnhöfe wie das Olympiazentrum sind zwar barrierefrei, doch bei älteren Stationen hakt es noch. "Eine Station umzubauen, ist ein riesiger Akt", sagt der städtische Behindertenbeauftragte Oswald Utz. Oft können Betroffene nicht direkt mit dem Lift an die Oberfläche fahren, sondern müssen im Zwischengeschoss umsteigen. Bei vielen Stationen muss zudem ein Höhenunterschied von acht bis 13 Zentimetern zwischen Bahnsteig und Waggon überwunden werden. Außerdem sind die Bedürfnisse nicht immer identisch: Während ein Mensch mit Sehbehinderung eine Bordsteinkante als Orientierung nutzt, ist sie für einen Rollstuhlfahrer ein nerviges Hindernis. Ziel sei deshalb, einen Kompromiss zu finden. "Bei vielen Stationen sind wir aber schon gut dabei", sagt Utz. In nächster Zeit soll etwa das Sendlinger Tor barrierefrei umgebaut werden. Nützt aber alles nichts, wenn an einer an sich barrierefreien Station der Aufzug kaputt ist. Dann kann die Reise schnell zu Ende sein.

Schwieriger Arztbesuch

Für Oswald Utz ist es ein Fluch: Die Suche nach einem geeigneten Arzt. Wie erklärt ein gehörloser Patient sein Problem einem Orthopäden? In welcher Praxis ist es in Ordnung, einen Blindenführhund mitzubringen? Es ist die Suche der Nadel im Heuhaufen. "Entweder sind die Räumlichkeiten zu klein, nicht richtig ausgestattet oder du kommst mit deinem Rollstuhl erst gar nicht in die Praxis", sagt Utz. Auch bei Ärzten gibt es keine Vorschriften hinsichtlich der Barrierefreiheit. Stufen vor dem Gebäude, Treppenhäuser ohne Aufzug, fehlende Behindertentoiletten seien nur einige der Hemmnisse, die den Arztbesuch erschweren. Besonders betroffen sind Frauen mit Behinderung: Es sei extrem schwierig, eine gynäkologische Praxis mit einem höhenverstellbaren Untersuchungsstuhl zu finden. Für Münchnerinnen befinden sich die nächsten barrierefreien Gynäkologie-Praxen in Dachau und Erlangen. Schon ohne Rollstuhl eine Weltreise.

Toiletten für alle

Wer in der Stadt unterwegs ist und ein dringendes Bedürfnis verspürt, hat an sich schon ein Problem. Mit einem Handicap wird es ungleich schwieriger, denn: Wer möchte schon am schmutzigen Boden eines engen, öffentlichen Klos gewickelt werden? Es gibt zwar sogenannte "behindertenfreundliche" Toiletten mit Haltegriffen. Allerdings ist das schwierig, wenn man nicht frei sitzen kann und auf eine Liege oder einen Lift angewiesen ist. "Es schränkt den Alltag extrem ein, wenn man sich immer überlegen muss, wo das nächste Klo ist", sagt David Offenwanger von "Leben pur". Die Stiftung hat eine sogenannte "Toilette für alle" konzipiert. Fünf davon gibt es im Raum München - etwa am Marienplatz oder am Flughafen. Die Toiletten sind geräumig, es gibt eine Liege und einen Personen-Lifter. In Großbritannien stehen mittlerweile rund 800 solcher Sanitäranlagen. "Die Kommunen und Bauträger werden sich immer bewusster, dass es solche Toiletten braucht", sagt Offenwanger. Kostenpunkt: zirka 10 000 Euro. "Das sind bei einem großen Bauprojekt Peanuts."

Feiern nur mit Plan

Ausgehen gehört zum Leben dazu - mit Behinderung ist es aber ein wenig komplizierter. Wenn sich Freunde in einer größeren Runde treffen, kann etwa ein Rollstuhlfahrer nicht immer einfach dazu stoßen. Und wenn man die Hürden zur Toilette nicht überwinden kann, trinkt man lieber nur ein Bier und geht dann wieder heim. Barrieren in Gaststätten und Lokalen führen dazu, dass die eigene Behinderung Thema bleibt: "Wenn ich mit meiner Tochter ins Kino gehen will und ich komme nicht in den Saal, macht das nicht nur mich traurig, auch mein Kind leidet darunter", sagt Utz. Und gut gemeint ist beim Thema Barrierefreiheit leider oft nicht gut gemacht: Mittlerweile gebe es in Kinos und Theatersälen eigene Rollstuhlplätze. Wolle man aber mit einem Menschen ohne Behinderung einen Film zusammen sehen, sitze dieser dann oft weit weg vom Rollstuhlplatz. "Das macht doch keinen Spaß", sagt Utz.

Ob man Essen geht, Hotelzimmer bucht oder Sport machen will - es ist alles mit sehr viel Planung verbunden. Auf der Homepage vom Club Behinderter und ihrer Freunde (www.cbf-muenchen.de) findet sich deshalb eigene Listen mit "Orten für Rollis" - von passenden Kinos, Theater und Schwimmbädern bis zu Wanderwegen. "Man muss nicht jeden Weg für uns zementieren", sagt Utz, "aber es wäre gut und wichtig, dass an uns auch gedacht wird." So brauche ein Biergarten nicht auf einen Kiesboden verzichten, aber wenn man ein paar Plätze barrierefrei erreichen könnte, wäre das optimal, findet Utz. So wie auf der Wiesn. Dort gibt es nämlich Zelte sowie Biergärten, die Tische für Behinderte reservieren und auf Verlangen frei räumen.

Im Internet unterwegs

Mails checken, Nachrichten schreiben, im Internet surfen. Dinge, die man mehrere Stunden täglich macht. Hat man aber etwa eine Sehbehinderung, werden Teile des Webs unzugänglich. "Ganz viele Informationen sind für Menschen mit Behinderung nicht erreichbar", sagt Peter Pabst vom CBF. Außerdem seien viele Seiten sehr kompliziert und im Beamtendeutsch gehalten. Für Menschen mit geistigen Einschränkungen sei das nicht zu verstehen. Es gibt aber auch die positive Seite: Menschen mit Behinderungen können dank Hilfsmitteln wie Handykamera, Screenreader, Spracherkennung und Brailleschrift Smartphones und Tablets nutzen. Und mittlerweile erleichtern viele Apps das Leben von Behinderten. Mit speziellen mobilen Anwendungen können sie etwa Text-Dolmetscher zuschalten und damit zum Beispiel Vorlesungen an der Uni verfolgen oder den Arztbesuch erledigen.

Der Aktionstag der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung findet bereits an diesem Mittwoch, 4. Mai, statt. Von 10 bis 17 Uhr gibt es auf dem Odeonsplatz Programm mit Diskussionen, Konzerten und Kabarett. Weitere Informationen im Internet unter www.lag-selbsthilfe-bayern.de.

© SZ vom 04.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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