Hilfsorganisation:Manager der Not

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Einen Birkenwald hat Wilfried Vyslozil in den Flur der Kinderdorf-Zentrale stellen lassen, mit Schaukel - falls Kinder zu Besuch kommen. Er selbst ist die meiste Zeit in der Welt unterwegs. (Foto: Robert Haas)

Wilfried Vyslozil ist Vorstandsvorsitzender der SOS-Kinderdörfer weltweit - in der Zentrale in München gehen gerade vor Weihnachten Millionen von Spenden ein.

Von Martina Scherf

Es sind nur wenige Schritte von Afrika nach Asien. Vorbei an einer Strandbar und einem Bambushain, einmal um die Ecke, dann beginnt Europa, erkennbar am Birkenwald. Dort hängt eine Schaukel zwischen den Stämmen. An den Wänden überall Fotos von lachenden Kindern. Freundlich-verspielt ist die Atmosphäre auf diesen Fluren, die nach Kontinenten benannt sind. Als ob hier die Devise lautete: Mach' mal Pause. Doch das täuscht. In der Zentrale der SOS-Kinderdörfer im Münchner Westend wird mit Nachdruck gearbeitet. Gerade jetzt, vor Weihnachten, wenn das Spendengeschäft seinen jährlichen Höhepunkt erreicht.

Der Weg zu Wilfried Vyslozil führt an zwei mächtigen Granitsteinen vorbei. Der eine stammt aus Österreich, der andere aus Italien. Vyslozil hat sie nach München geschleppt, jetzt liegen sie nebeneinander wie zwei Brüder. Steine sind sein größtes Hobby. Aus jedem Land, das er bereist, bringt er welche mit, oft sind Geschichten mit ihnen verbunden. Doch erst einmal weiter durch die Flure, ganz hinten in der Ecke liegt sein Büro mit Alpenblick. An guten Tagen kann er von hier die Zugspitze sehen. Dann ist seine Heimat ganz nah.

Vor acht Jahren kam Wilfried Vyslozil aus Innsbruck in die Zentrale nach München. Seit wenigen Tagen ist der 57-Jährige nun Vorstandsvorsitzender der SOS-Kinderdörfer weltweit, einer Organisation mit 35 000 Mitarbeitern, die etwa 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche betreuen. Er kümmert sich um 560 Kinderdörfer in 134 Ländern und weitere Projekte, die das Hilfswerk ins Leben gerufen hat: Kindergärten, Schulen, Familienzentren und Nothilfe nach Naturkatastrophen oder Kriegen. Nur nicht in Deutschland, die hiesigen Kinderdörfer sind in einem eigenen Verein organisiert.

Während sein Vorgänger, wie man gelegentlich hörte, einen eher präsidialen Führungsstil pflegte, sieht sich Vyslozil als Förderer und Ideengeber. Transparenz ist dem promovierten Ökonom wichtig und Kommunikation, deshalb auch die Gesprächsecken im Bürohaus am Heimeranplatz. Sogar einen Meditationsraum gibt es. Und eine Zirbelstube. Die stammt aus dem Nachlass eines Österreichers. Womit wir mitten im Thema wären.

"Es gibt sehr viele vermögende Menschen, die einen Teil ihres Geldes stiften", sagt Vyslozil, gerade die Deutschen seien Meister im Spenden. 140 Millionen Euro erreichten den Verein im vergangenen Jahr. Ein Viertel davon sind Erbschaften, das reicht von Geldbeträgen über Immobilien, Kunstwerke bis zu einer Schaf-Farm in Australien. Wer Großes zu vererben hat, nimmt meist schon zu Lebzeiten Kontakt auf. Wilfried Vyslozil wird dann nicht selten zum Vertrauten. Der groß gewachsene Mann mit kurz geschnittenem grauen Haar, spricht mit einer leisen Stimme, die nicht recht zur Körpergröße passen will. Er trägt gerne Janker, sein österreichischer Zungenschlag wirkt weich, er kann gut zuhören. "Das sind oft intime Momente", sagt er, "viele dieser Spender sind kinderlos, haben einen Partner verloren oder schlimme Kriegs- und Fluchterlebnisse. Solche Schicksale sensibilisieren für die Not anderer." Manche verbinden mit dem Nachlass auch Auflagen: dass die Beerdigung organisiert, das Grab gepflegt wird - oder das Pferd ein Gnadenbrot erhält. "Natürlich machen wir das", sagt Vyslozil.

Das alles gehört zur einen Seite der Wohlstandskluft, mit der er es zu tun hat. Auf der anderen Seite stehen Jungen und Mädchen in aller Welt. Begonnen hatte alles mit Herrmann Gmeiner. Der Medizinstudent baute 1949 das erste SOS-Kinderdorf im österreichischen Imst. Jedes Kind braucht eine Mutter und wächst am natürlichsten mit Geschwistern in einer Art Dorf-Gemeinschaft auf, das war seine Idee. "Nach dem Krieg gab es in Tirol ja Tausende von Straßenkindern", sagt Vyslozil, "das weiß heute kaum mehr jemand." Nicht nur die Berge und Flüsse seiner Heimat faszinieren den Weltreisenden noch immer, auch die Geschichte. Die freien Wochenenden verbringt er bei der Familie in Innsbruck.

Betriebswirtschaft hat er studiert, "in der Krupp-Stadt Linz", wie zuvor schon sein Bruder Wolfgang, der später die Austria Presse Agentur (APA) groß machte. Wilfried ging einen anderen Weg. Er wollte "auch nicht in Stahl, Chemie oder in einer Bank arbeiten" und landete bei der Diakonie, fand dort Gefallen an der Verbindung von "sinnstiftendem Anspruch und Führungstechnik". Nach der Promotion und einer Zeit als Managementtrainer kam das Angebot der Geschäftsführung von SOS-Kinderdorf Österreich mit 1000 Mitarbeitern. Ja, er führt gerne, gibt er in seinem sanften Tonfall zu, aber "ich wollte meinen drei Kindern immer erklären können, warum ich das mache".

Als Chef der weltweiten Kinderdörfer ist Vyslozil mehrere Wochen im Jahr unterwegs. Äthiopien, Gaza, Rumänien oder entlang der Flüchtlingsroute. "Sehen Sie mal", sagt er und öffnet sein Tablet. Wo immer er sich aufhält, nimmt er sich Zeit zum Fotografieren. "Hier, das ist ein Güterbahnhof an der serbisch-mazedonischen Grenze. Da werden Menschen einfach abgeladen, dann gehen sie auf den Gleisen, das weckt schreckliche Erinnerungen", sagt er. Vor drei Wochen erst war er dort.

Ob in Haiti, Nepal oder im Libanon, wo jetzt zwei Millionen syrische Flüchtlinge leben und viele Kinder verloren gehen - "nach einer Katastrophe stehen oft verzweifelte Menschen vor unseren Türen". In Griechenland bringen Eltern ihre Kinder, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Dies alles ist notwendig, sagt Vyslozil. Langfristig setzt er aber mehr auf Sozialarbeit und Bildung, "da erzielen wir mit relativ wenig Aufwand große Wirkung". Da spricht der Ökonom. 60 Prozent solcher Projekte sei das Fernziel. Wieder zückt er sein Tablet, ruft ein Bild von Malala Yousafzai auf, der jungen pakistanischen Friedensnobelpreisträgerin. "Mit Gewehren kann man Terroristen töten, mit Bildung tötet man Terrorismus", steht darunter.

Vor ein paar Tagen war Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zu Besuch in der Zentrale, Vyslozil hat ihm seine Strategie erklärt: an bestehenden Kinderdörfern andocken, um das Leben in der Nachbarschaft zu verbessern. In einem Armenviertel von Dschibuti am Horn von Afrika haben sie ein Bildungszentrum für 200 Kinder und Jugendliche eröffnet. Der Deutsche Reederverband und Müllers Ministerium beteiligen sich daran. Bildung als Kampf gegen Piraterie. Wie der Ökonom so etwas erzählt, sachlich, unprätentiös, aber mit Nachdruck, kann man sich vorstellen, dass er Politiker oder Wirtschaftsführer überzeugt.

Etwa 100 Mitarbeiter beschäftigt die Zentrale der SOS-Kinderdörfer in München. Die meisten davon sind mit Fundraising befasst. 81 Prozent der Einnahmen fließen an die weltweiten Projekte, knapp zwei Prozent in die Verwaltung - und 17 Prozent ins Marketing. Es gibt eine Abteilung für digitale Medien, es werden hauseigene Image-Filme gedreht, vom Youtube-Clip bis zum 90-Minuten-Porträt eines Landes. Das scheint ein hoher Aufwand zu sein, aber: Bis zu 30 Prozent Marketinganteil sind erlaubt, um als seriöse Spendenorganisation zertifiziert zu werden.

Die vielen kleinen Spender erreiche man nun mal nicht anders, sagt Vyslozil - zumal der jährlich fast fünf Milliarden Euro schwere deutsche Spendenmarkt hart umkämpft ist. Er will künftig weniger Briefe verschicken und mehr auf Online-Aktionen setzen. Auch schaut die Gesellschaft heute viel kritischer als früher darauf, wie das Geld verwendet wird. Deshalb werden Großspender, Major Donors, wie sie im englischen Fachjargon heißen, besonders betreut. Sie erhalten Bau- und Kostenpläne einer Einrichtung, Jahresberichte und können sich auch an Ort und Stelle ein Bild machen.

Von Charity-Events mit Prominenten hält der oberste Marketingchef dagegen nichts, er lässt lieber ehemalige SOS-Kinder reden, die es im Leben zu etwas gebracht haben. Auch die Religionen will der Pragmatiker draußen halten, sie stifteten zu viele Konflikte. "Ich frage grundsätzlich nicht, welchen Glauben einer hat, ich erwarte aber, dass er das als Privatsache erachtet." In den Kinderdörfern im Nahen Osten arbeiten Muslime, Christen und Juden. Der Österreicher selbst hält sich lieber an Handfestes wie die Steine. Einer, der auf seinem Schreibtisch liegt, sieht aus wie eine Kartoffel. Er hat ihn aufgesägt und siehe da: Es verbirgt sich ein Amethyst darin. "Den zeige ich gern den Kindern und sage ihnen: Auch in euch steckt ein Juwel, ihr müsst es nur entdecken."

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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