Helpline:"Es geht darum, Worte zu finden"

Lesezeit: 4 min

Marion Koll-Krüsmann leitet den Verein PSU Akut. Mit einer Helpline wendet sie sich an Beschäftige in Klinken und Seniorenheimen, um ihnen bei der Verarbeitung belastender Situationen zu helfen. (Foto: Heidifoto München)

Marion Koll-Krüsmann unterstützt medizinisches Personal und Pflegende nach traumatischen Corona-Erlebnissen am Telefon

Interview von Ekaterina Kel

Die dritte Corona-Welle fordert das Personal an den Krankenhäusern erneut heraus. Wie sollen Ärztinnen und Pfleger die Belastungen des Corona-Alltags noch bewältigen? Der Münchner Verein PSU Akut bietet seit einem Jahr die PSU-Helpline an, bei der Betroffene mit Kollegen aus demselben Bereich ins Gespräch kommen können. Mehr als 2000 Beschäftigte im Gesundheitswesen hat man so beraten können. Die fachliche Leiterin des Vereins, Marion Koll-Krüsmann, ist Psychologische Psychotherapeutin. Sie sagt, dass das Sprechen beim Verarbeiten hilft.

SZ: Frau Koll-Krüsmann, seit mehr als einem Jahr kämpfen Pflegekräfte und Ärzte in den Krankenhäusern gegen die Pandemie an. Bei Ihnen melden Sie sich, wenn Sie seelische Unterstützung brauchen. Was treibt sie um?

Marion Koll-Krüsmann: Die Menschen, die bei uns an der Helpline anrufen, sind stark belastet. Wenn sie beispielsweise im Altenheim arbeiten, mussten sie zusehen, wie Menschen, die sie teilweise seit mehreren Jahren gepflegt haben, plötzlich starben. Ganz allein, in Isolation. Pflegekräfte von der Intensivstation erleben ein starkes Gefühl der Ohnmacht: Es gibt immer noch so wenig, was man gegen das Virus tun kann. Jemand hat mal in einem Beratungsgespräch gesagt "Wir pflegen sie in den Tod." Das kann sehr stark belasten. Den Satz "Sie sterben wie die Fliegen" habe ich nicht nur einmal gehört.

Rufen viele Pflegerinnen und Pfleger an?

Das ist bei Weitem die größte Gruppe der Betroffenen. Sie sind oft näher am Patienten, gerade am Sterbenden. Aber wir führen Gespräche auch mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, auch vor Ort in den Einrichtungen, zum Beispiel Menschen am Empfang, die von wütenden Angehörigen beworfen werden - weil sie nicht rein dürfen.

Welche Themen beschäftigen das medizinische Personal in der Pandemie noch?

Am Anfang war vor allem die Angst da. Angst, das Virus ins Krankenhaus oder ins Heim einzuschleppen. Angst, die eigene Familie anzustecken. Später kam die Fassungslosigkeit dazu über die Demonstrationen der sogenannten Querdenker. Ihr Verhalten, das als rücksichtslos und egoistisch wahrgenommen wurde, hat sehr viele beschäftigt. Für die Menschen an den Krankenbetten, die zusehen mussten, wie die Patienten starben, waren und sind Demos von Corona-Leugnern eine starke Provokation. Ein großes Thema ist die unglaubliche Anstrengung bei der Arbeit in kompletter Schutzausrüstung.

In der dritten Welle klagen viele über zunehmende Erschöpfung.

Wenn man nur noch das Gefühl hat, funktionieren zu müssen, kann das böse enden. Viele sagen zwar, sie können nicht mehr, aber sie bleiben aus Solidarität mit den Kollegen trotzdem noch da. Meine Sorge ist, dass wenn das Ganze vorbei ist, viele aufhören werden. Sie sind erschöpft - und enttäuscht.

Wie fängt man diese Belastung auf?

Es ist wichtig, über belastende Erlebnisse zu sprechen. Deshalb ermutigen wir die Menschen, sich mit der Ausnahmesituation auseinanderzusetzen und belastende Momente zu bewältigen. Es ist auch sehr wichtig, Distanz zu finden, um die Arbeit in Gedanken nicht jedes Mal mit nach Hause zu nehmen.

Das Gespräch ist also der erste Schritt?

Es geht darum, Worte zu finden für etwas, das sonst unausgesprochen bleibt. Sich die Dinge von der Seele zu reden. Viele Pfleger und Ärzte tragen schwere Erlebnisse immer noch mit sich rum, ohne sie ordentlich zu verarbeiten, weil sie glauben, dass sie nur stark genug sein müssen. Tatsächlich ist es genau anders rum. Ein belastendes Erlebnis zu verarbeiten, macht sie stärker.

Können Sie das erklären?

Wenn Menschen etwas Belastendes erleben, etwa einen schweren Unfall, wandert es direkt ins diffuse Gedächtnis. Erst wenn man ein Trauma bespricht und verarbeitet, ordnet es sich in den Ort der episodischen Speicherung ein, in die Hirnrinde. Es bildet sich quasi eine Schublade, in die das Erlebte hineingelegt werden kann. So wird es beherrschbar.

Erreicht PSU Akut viele Betroffene?

Wir müssen teilweise selbst aufpassen, dass wir uns nicht überarbeiten. Aber es gibt so viel Bedarf. Als Therapeutin arbeite ich teilweise mit Ärzten, die ein Trauma im Beruf erlebt haben, das sie noch mehrere Jahre später verfolgt. Das wird dann zur Depression, dann ist die Frau weg, dann ist der Job weg - dabei können besonders tätigkeitsbedingte Traumata, wenn man früh reagiert, sehr gut behandelt werden. Langfristig haben wir das Ziel, dass sich an jedem Krankenhaus und jedem Altenheim eigene kollegiale Unterstützungsstrukturen bilden.

PSU Akut baut ein Netzwerk von sogenannten Peers auf, also Kolleginnen und Kollegen, die im selben Beruf tätig sind und mit denen man sich austauschen kann.

Genau, darüber hinaus kann jeder über die Helpline auch Peers erreichen, die nicht am selben Arbeitsplatz sind, und so zu anonymen Gesprächspartnern werden. Denn wir glauben, dass es wichtig ist, den Menschen die Möglichkeit zu geben, unbefangen über das Erlebte zu sprechen, ohne Angst vor negativen Auswirkungen bei der Arbeit. Wir achten darauf, dass Menschen mit besonderem Bedarf an Trauma-Experten oder Therapeuten weitergeleitet werden. Wir bieten auch Interventionen für ein ganzes Team an - wenn beispielsweise in einem Pflegeheim sehr viele Menschen an Corona sterben mussten, dann kann es hilfreich sein, das als ganzes Team zu verarbeiten.

Was hilft dauerhaft gegen die Belastung?

Von der Pflege höre ich immer wieder den Wunsch nach mehr Unterstützung und Wertschätzung vom System Klinik und auch von der Gesellschaft. Besonders jetzt wird klar, was durch die zunehmende Kommerzialisierung im Gesundheitssektor in den vergangenen 20 Jahren versäumt worden ist. Im Grunde benötigt das Personal dringend Pause und Erholung. Stattdessen kommt nun eine dritte Welle angerollt.

Die PSU-Helpline ist unter 0800/0911 912, täglich von 9 bis 21 Uhr, erreichbar . Die Nutzung ist kostenfrei, vertraulich und anonym.

© SZ vom 12.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: