Haus-Historie:Das goldene Auge wacht

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Mehrmals ist das denkmalgeschützte Orag-Haus am Oberanger der Zerstörung und Plünderung entgangen. Seit 1929 hat dort die Oberbayerische Rohstoff- und Arbeitsgemeinschaft ihren Sitz - und einen Laden

Von Nicole Graner

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(Foto: Stephan Rumpf)

Die hohen und großen Wohnungen des Orag-Hauses am Oberanger waren 1897 nichts für den kleinen Geldbeutel.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Himmlischer Segen: Das "Auge Gottes" beschützt das Orag-Haus.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Der alte Briefaufzug funktioniert noch immer.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus von Brandbomben getroffen.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Das alte Treppenhaus wurde gerade liebevoll saniert und in den ursprünglichen Zustand gebracht.

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(Foto: Stephan Rumpf)

"Wenn wieder Geld da ist", sagt Geschäftsführerin Claudia Gärtner, "wird der herrliche Fußboden renoviert".

Die Sonnenstrahlen, die an diesem Herbsttag sogar noch ein bisschen wärmen, haben sich ein ganz besonderes Gegenüber gesucht: die vier goldenen Sonnen-Embleme auf der liebevoll mit Ornamenten verzierten Fassade des wunderschönen Hauses der Oberbayerischen Rohstoff- und Arbeitsgemeinschaft (Orag) am Oberanger 9. Sie funkeln im Sonnenlicht. Wie das vergoldete "Auge Gottes", das auf dem obersten Rundgiebel der Fassade eine glitzernde Botschaft in den Himmel schickt. So ein bisschen nach dem Motto: Über diesem Haus liegt ein göttlicher Segen. Falsch ist das ganz und gar nicht. "Denn", so erzählt Claudia Gärtner, "das Auge hat das Haus immer beschützt. Besonders dann, wenn die Zeiten unruhig waren".

Die Frau, die seit 25 Jahren in der Schneidereigenossenschaft arbeitet und vor 15 Jahren zur Geschäftsführerin geworden ist, kennt die Geschichte des Hauses direkt am St.-Jakobs-Platz wie keine andere. Und so weiß sie eben auch, dass der Herrgott es mit dem Haus und seinen Bewohnern immer gut gemeint hat. Im Zweiten Weltkrieg, erklärt die 47-Jährige, wurde das Haus von Brandbomben getroffen. Alle Mieter halfen mit und löschten in einer Großaktion die Feuer, so dass das Haus in seiner Substanz erhalten blieb. "Um unser Haus herum", weiß Gärtner, "war alles kaputt". Auch wird das Haus nach dem Krieg von Plünderern verschont. "In einem Schacht im Keller, der zum unterirdisch fließenden Stadtbach ging, wurden einfach Bretter eingezogen und dort die teuren Stoffe versteckt", erzählt Gärtner. Und noch einmal wacht das Auge Gottes: als das Haus sogar abgerissen werden sollte, um einem U-Bahnhof zu weichen. Doch der Orag-Aufsichtsrat kämpft hartnäckig für das Haus - und gewinnt. Das Haus ist geblieben. Heute verlaufen die beiden U-Bahn-Röhren direkt unter dem Haus. "Manchmal", sagt Gärtner, "kann man die Züge hören".

"Ein Bad vor Zeiten hier bestand "Gighanbad genannt". Goldene Buchstaben auf grünem Grund sind an der linken Haus-Fassade zu lesen. Hanns Güger-hahn gehörte das Badhaus, das urkundlich zum ersten Mal 1387 erwähnt worden ist. Bader und Wundärzte sorgten sich darin um das Wohlergehen der Münchner Bürger. 1897 wird das alte Badhaus abgerissen. Johann Grassel und Max Kraus bauen 1897 ein Wohnhaus, das vor allem für die gehobene Bürgerschicht gedacht ist. Hohe und große, verzierte Wohnungen sind nichts für den kleinen Geldbeutel. Es gibt sogar separate Dienstboteneingänge. Der jüdische Textilkaufmann Arnold Götz erwirbt das Anwesen 1926. Er wird Geschäftsführer, als die Orag das Haus 1929 kauft.

Die Idee der Schneidereigenossenschaft geht auf den Münchner Hofschneider Josef Paulus zurück. Er kaufte in großen Mengen Stoffe und Materialien und gab sie an die kleinen, selbständigen Schneider weiter. Diese Selbsthilfe wurde zum Erfolgsmodell. Auf ihr basiert noch heute die Grundidee der Orag. "Seitdem", sagt es Claudia Gärtner kurz und bündig, "ist dieses Haus das Haus der Maßschneider". Kunden seien in erster Linie Maßschneider, Theater- und Opernhäuser. Und zum kleineren Teil auch Privatkunden. Die haben oft viele Wünsche. Einen Wollstoff mit echten Goldfäden zum Beispiel. "Da mussten wir dann schon länger suchen, um so einen Stoff zu finden", erinnert sich die Geschäftsführerin.

Alte, große Original-Verkaufstheken, Garne in allen Farben, Futterstoffe und Reißverschlüsse als Meterware - der Verkaufsraum erzählt die Geschichte der Orag. Der Hingucker für alle, die Farben lieben: die unzähligen, nach allen Rot-, Blau- oder Grüntönen sortierten Knopf-Schachteln. Mehrere 100 000 sollen es sein. Das teuerste Exemplar ist ein Büffelhornknopf mit "Keramikeinlage", sprich einem gemalten Fuchsbild auf Porzellan. Oder ein Knopf mit Swarovski-Steinen. Verschickt werden die runden Platten mit zwei oder vier Löchern auch. Trachtenknöpfe gingen zum Beispiel schon mal nach Australien. Man mag es nicht glauben: Einmal im Jahr werden alle Knöpfe - wirklich alle - zur Inventur gezählt. Claudia Gärtner sagt das, als wäre eine derartige Zählaktion ganz selbstverständlich. "Für uns schon", sagt sie und lacht. Zur "Hardcore-Inventur" kämen alle Mitarbeiter. Zwölf arbeiten derzeit bei Orag. Die älteste ist 79 Jahre alt. Seit 35 Jahren ist Therese Sandner dem Haus verbunden, selbst Schneiderin und eine Seele von Verkäuferin. Schon lange ist sie in Rente, aber ohne Stoffe und Knöpfe geht es eben nicht. "Manchmal habe ich ein bisserl Angst, dass sie mich hier gar nicht mehr brauchen", sagt sie und streicht liebevoll über die Glasplatte der Theke. Aber Angst muss sie keine haben. "Wir lassen sie ja nicht gehen", sagt Gärtner.

Immer wieder hat die Orag das denkmalgeschützte Haus verschönert, 1976 wird es mit dem Fassadenpreis der Stadt München ausgezeichnet. Besonders geht es der Genossenschaft darum, das Haus im Originalzustand zu erhalten, behutsam zu sanieren. Erst in den vergangenen beiden Jahren wurde das Treppenhaus neu gestaltet und in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Und noch immer gibt es einen uralten Heizkörper, in dem man früher in einer Klappe sein Essen wärmen konnte oder einen alten, kleinen Zuglift, der beide Etagen verbindet.

120 Jahre gibt es das Haus mit Blick auf den Alten Peter. Die Mitarbeiter, die Mieter, die in drei Etagen zu zivilen Preisen wohnen und die Geschäftsinhaber - alle lieben es, bilden eine Gemeinschaft, die eines leben will: ein Miteinander. "Natürlich könnten wir die Wohnungen meistbietend vermieten", sagt Claudia Gärtner, "aber das wollen wir nicht. Wir wollen friedlich miteinander leben. Und das haben wir immer geschafft." Fast als Beweis bringt eine Mieterin zum Tag der offenen Tür eine Flasche Sekt vorbei. Zum Feiern.

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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