Haidhausen:Wo einst die kleinen Leute lebten

Lesezeit: 7 min

1200 Jahre Haidhausen: Das alte Viertel gibt es nicht mehr - aber das neue ist so schön, dass selbst Kulturpessimisten verzweifeln.

Wolfgang Görl

Haidhausen im Herbst: Die Sonne lässt das bunt gefärbte Laub der Bäume aufleuchten wie gigantische Lichtinstallationen, Kinder toben im Gras, und die Spitze des sechseckigen Kirchturms deutet verheißungsvoll auf den sattblauen Himmel.

Am Wiener Platz, wo man heute gemütlich sitzen kann, zogen einst die Salzfuhrwerke vorbei. (Foto: Foto: Haas)

Unten, hangabwärts, die Isar; man spürt die Nähe des Flusses, und je länger man verweilt, desto schwieriger wird es, sich das bezaubernde Idyll als Schauplatz menschlicher Tragödien vorzustellen. Man muss sich losreißen von der Gegenwart, eintauchen in die Vergangenheit, ins 13.Jahrhundert, als die Münchner hier, auf der Gasteighöhe, ein Haus für "Sundersiechen" errichteten.

"Sundersiechen" - das waren Leprakranke, arme Teufel, die an der von Kreuzfahrern und Pilgern eingeschleppten Seuche litten. Mit städtischem Geld, vor allem aber mit Spenden baute man am jenseitigen Flussufer ein Leprosenhaus, in dem bis zu 90 Kranke hinter Mauern dahinsiechten.

Nur mit Sondererlaubnis durften sie die Anstalt verlassen, gehüllt in das dunkle "Siechen-Kleid", damit jeder sie als Aussätzige erkannte. Keinen Gasthof durften sie betreten und auch keine Kirche. Mit einer Ausnahme: die Kapelle "St. Nicolaus ad leprosos". Das idyllische Kirchlein, das noch immer auf der Gasteiger Höh' steht.

Ob die Leprakranken mitbekamen, was jenseits der Mauern vor sich ging? Die Kommandos der Fuhrleute, das Klappern der Hufe, das Peitschenknallen, das Schnauben der Rösser. Hier führte der "gache Steig" hinunter zur Isarbrücke, hier rollten die Salzfuhrwerke ein, die das mittelalterliche München zu einer florierenden Stadt machten. Vor dem Abhang hatten die Fuhrmänner noch ein kleines Straßendorf passiert, mit einer Kirche, ein paar Bauernhäusern und einem Wirtshaus vielleicht: Haidhausen.

Schicksalsgemeinschaft

Die Siedlung war schon da, als das Petersbergl und der Schrannenplatz noch ein Revier von Wildschweinen und Füchsen waren. Und als Heinrich der Löwe und Bischof Otto von Freising 1158 um Brückenzölle und Münzrechte stritten, war Haidhausen bereits 350 Jahre alt.

Das Dorf, ehedem abseits der Handelswege gelegen, wurde mit einem Mal Anrainer einer bedeutenden Salzstraße, und von da an verband sich sein Schicksal mit dem Münchens, bis es selbst Teil der großen Stadt wurde. Im Vergleich mit Haidhausen ist München ein junger Emporkömmling, der sich gar nicht so aufplustern muss, weil er heuer 850 Jahre alt wird. Denn Haidhausen feiert in diesen Tagen den 1200. Geburtstag - ein Alter, das weit mehr Respekt erheischt.

Es gibt nichts, was an das Haidhausen zu Zeiten Karls des Großen erinnert. Nichts, außer einer Urkunde des Bistums Freising aus dem Jahr 808. Darin wird erstmals die Siedlung "heidhusir" erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit einer kleinen Kirche, die ein Gottesmann namens Erlaperth samt Wohnhaus und Grundstück dem Freisinger Bischof übereignet hat. Wahrscheinlich gab es ein paar Gehöfte drumherum, Äcker, die nicht viel hergaben, und man darf annehmen, dass die frühen Haidhauser froh waren, wenn sie ohne Hungersnot über den Winter kamen.

Was ihnen sonst widerfuhr, ob es Überfälle gab, Plünderungen oder Mordbrennerei, weiß niemand. Fast möchte man sagen: 350 Jahre Einsamkeit - bis Heinrich der Löwe zuschlug. Die Abfackelung der Föhringer Brücke, die Gründung des Markts zu "munichen", die Verlegung der Handelsstraße. Fortan ist es vorbei mit der Haidhauser Einsamkeit, und schon um 1300 zuckeln täglich bis zu 80 schwer beladene Fuhrwerke, von Hallein und Reichenhall kommend, über die heutige Einstein-, Kirchen- und Wienerstraße den Gasteig hinab nach München.

Ausgehen in Haidhausen
:Jazz und Flaschenbier

Haidhausen hat sich bisher nicht als hippstes Ausgehviertel hervorgetan. Doch inzwischen kann man dort gut essen gehen, Live-Musik hören oder einfach nur Bier trinken.

Beate Wild

Von den üppigen Zoll- und Stapelgebühren fällt nichts ab für die Dörfler, aber wenigstens lassen die Fuhrknechte und Händler gelegentlich ein paar Münzen zurück, wenn sie in Haidhausen noch einmal Rast machen oder gar übernachten.

In der Kirchenstraße befindet sich heute das Haidhausen-Museum, wo soeben Hermann Wilhelm Platz genommen hat, der nicht widerspricht, wenn man ihn als größten lebenden Haidhausen-Experten anspricht. Er hat zig Bücher über den Stadtteil geschrieben, er leitet das Museum und sitzt seit Menschengedenken im Bezirksausschuss.

Er ist in Haidhausen geboren, er ist in Haidhausen aufgewachsen, er wohnt und wirkt in Haidhausen, und wenn nicht alles täuscht, wird er in Haidhausen bleiben bis zum letzten Atemzug. Wilhelm, Jahrgang 1949, ist in den fünfziger Jahren als kleiner Bub durch die endlosen Labyrinthe der Lagerstollen und Kellerräume am Rosenheimer Berg gekrochen, die die Großbrauereien, der Sterneckerbräu, das Hofbräuhaus, der Maderbräu, der Augustinerbräu und viele andere im 19. Jahrhundert in den Boden getrieben haben, um ihr Bier zu kühlen.

Die Ruinen und Brachflächen, die der Krieg hinterlassen hatte, waren seine Spielplätze, "es war ein dunkles Viertel, die Häuser waren grau", und darin wohnten die typischen Gestalten der Vorstadt: Arbeiter, Handwerker, Kleingewerbler, Tagelöhner, Kriegswitwen und Strizzis. In den Mietshäusern gab es ein Gemeinschaftsbad und eine Toilette pro Stockwerk, manche mussten über die Straße zum Brunnen laufen, um frisches Wasser zu holen.

Für den kleinen Hermann war das damals normal, erst heute wundert er sich, in welcher Welt er aufgewachsen ist. Diese Welt ist fast gänzlich versunken. Verschwunden ist zum Beispiel die Bettfedernreinigung, die in der Nähe von Hermann Wilhelms Elternhaus am Max-Weber-Platz ihre Dienste anbot. Aus der Reinigung wurde eine Gastwirtschaft, diese mutierte in eine Pizzeria, die wiederum einem McDonald's wich, und wer mittlerweile den Laden führt, weiß nicht mal Haidhausen-Kenner Wilhelm.

Als er 1971 sein Studium an der Münchner Kunstakademie begann, haben seine Kommilitonen gesagt: "Um Gottes Willen, aus Haidhausen kommst du! Das ist doch das Glasscherbenviertel am Ostbahnhof!" Zwei, drei Jahre später kamen dieselben mit der Frage: "Du bist doch aus Haidhausen. Weißt du da nicht eine Wohnung?" Plötzlich war der Stadtteil rechts der Isar bei jungen Leuten en vogue.

Es gab billigen Wohnraum, günstiger als in Schwabing, und wenn man das Geld zusammenwarf, konnte man bei 200 Mark Miete eine Studenten-WG in einer Vierzimmer-Wohnung gründen. Dass viele Gebäude marode waren, mehrte nur ihren Charme. Die Stadtverwaltung sah dies allerdings anders. Mitte der Siebziger erklärte der Stadtrat das Viertel zum Sanierungsgebiet, woraufhin mitunter so gründlich saniert wurde, dass mit den alten Wohnungen auch deren Bewohner verschwanden. In den achtziger Jahren mutierte Haidhausen zum Quartier der Besserverdienenden. "Es fand eine massive Verdrängung statt", sagt Wilhelm. Und aus den Arbeiterkneipen, in denen man sich für wenig Geld den Abend schöntrinken konnte, wurden schicke Bars für die Jeunesse dorée.

Es gehört zum Repertoire eines jeden Kulturpessimisten, derartige Entwicklungen mit Abscheu zur Kenntnis zu nehmen. Wer aber entsprechend gestimmt durch Haidhausen spaziert, ist schwer gefährdet, seiner kritischen Grundhaltung verlustig zu gehen.

Sagen wir's ruhig: Haidhausen ist schön. Ist es nicht gerade das Nebeneinander von Altem und Neuem, die Vielfalt der Lebensentwürfe und Baustile, was Urbanität ausmacht? Da verbreiten die neuen Wohnbauten am Rosenheimer Berg einerseits mondänen Glanz, während sich andererseits in den luxuriös gestalteten Innenhöfen die althergebrachte Spießigkeit zurückmeldet, indem sie Schilder mit der Aufschrift "Rasen betreten verboten" platziert.

Oder die alten Herbergshäuser, die in der Senke "An der Kreppe" stehen: Sie erwecken den Eindruck, als duckten sie sich furchtsam, weil sie, Überbleibsel einer vergangenen Zeit, erdrückt zu werden drohen von den benachbarten Bürobauten, in denen Menschen im Business-Anzug Breitbandlösungen für die Kommunikationsbranche entwickeln.

Womöglich sieht man dieselben Herrschaften am Abend beim Konzert im Gasteig, der städtischen Kulturbastion, deren Mauern wie eine Befestigungsanlage aussehen, mit denen man die Kultur vor den wilden Haidhausern schützen möchte.

Vielleicht ist das Ziegelmonster auch nur eine feinsinnige Anspielung auf Haidhausens Verdienste um den Bau der Münchner Frauenkirche. Um das mittelalterliche Dorf gab es umfangreiche Lehmgründe, die geeignet waren, im großen Stil Ziegel zu produzieren. Die Haidhauser Ziegeleien lieferten die Backsteine, mit denen Meister Jörg von Halsbach im 15. Jahrhundert den Dom errichtete, und auch die Stadtmauern zog man mit Ziegeln aus Haidhausen hoch.

Freilich dachten die Münchner nicht daran, auch ihre Ziegellieferanten mit einer Mauer zu beglücken, weshalb die Haidhauser häufig zu Opfern anrückender Heere wurden. Im Dreißigjährigen Krieg wurde der Ort mehrmals geplündert, wobei die Truppen des Generals Wrangel 1647 die schlimmsten Verwüstungen anrichteten. Zudem war die Gasteiger Höhe wie geschaffen, um die Stadt zu überblicken und mit Kanonenfeuer zu belegen.

Die militärisch günstige Lage des Hochufers nutzte am Weihnachtstag 1705 auch der kaiserliche Oberst von Eck, als er seine Kavallerie vom Gasteigberg aus auf die aufständischen Bauern hetzte, die München von der Habsburger Herrschaft befreien wollten.

Zu dieser Zeit war Haidhausen längst ein Sammelbecken für jene, die nach München wollten, aber nicht hineinkamen. Schon im Mittelalter drängte die arme Landbevölkerung in die Stadt, doch das Bürgerrecht konnte man nur mit viel Geld erwerben, und das hatten sie nicht. So strandeten die Mittellosen in den Vorstädten: in der Au, in Haidhausen. Sie waren Tagelöhner, Handwerker, Besenbinder, und weil der Verdienst oft nicht reichte, stahlen oder bettelten sie.

Die Münchner verachteten die Vorstädter. Man sagte, von drei Bettlern in der Stadt seien mindestens zwei aus Haidhausen. In aufgelassenen Lehm- und Kiesgruben, in Hohlwegen und an Bachläufen errichteten sie ihre Herbergshäuser. Meist waren es Holz- oder Fachwerkbauten, feucht und eng waren sie, und oft hausten darin mehrere Familien. Diese mussten die Wohnungen kaufen, skrupellose Eigentümer verhökerten selbst Arbeitsschuppen und Stallungen als "Herbergen". Einzelne Zimmer wurde vermietet, nicht selten auch die Nutzung des Bettes für nur ein paar Stunden. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, immer wieder brachen Seuchen aus.

Ratten im Haus

Wie es um 1900 in so einer Herberge zuging, zeigen die Schilderungen einer Frau, die Hermann Wilhelm in seinem Buch "Haidhausen" zitiert: "Die armen Leute dort haben oft nichts zu essen gehabt und sind oft schon um 5 Uhr ins Bett gegangen, damit sie sich das Abendessen gespart haben. Viele waren zum Beispiel Lumpensammler, manche haben aber auch gar nichts gearbeitet. Damals hat's in dem Haus noch Ratten gegeben."

Angesichts dessen liegt es nahe, dass Haidhausen, seit 1854 eingemeindet, eine Hochburg der "Roten" ist, als 1918 die Revolution ausbricht. Umso schlimmer wüten die "weißen" Truppen, nachdem sie die Räterepublik niedergeschlagen haben. In der Flurstraße etwa werden 40 Haidhauser Arbeiter "standrechtlich" erschossen.

In der Weimarer Republik sind die großen Bierkeller der Schauplatz politischer Rede- und Saalschlachten. Am 8. November 1923 ruft Hitler im Bürgerbräukeller die "nationale Revolution" aus. Der Marsch auf die Feldherrnhalle am nächsten Tag endet im Kugelhagel der Polizei. Zum Jahrestag des gescheiterten Coups spricht Hitler am 8. November 1939 wieder im Bürgerbräu. Überraschend früh verlässt er das Lokal. Acht Minuten später explodiert die Bombe, mit welcher der Schreiner Georg Elser den Diktator töten wollte.

Den Ort des Geschehens, den Bürgerbräukeller, gibt es nicht mehr. 1979 wird er abgerissen. Heute steht dort das Hilton City Hotel, politisch ein unbedeutender Ort. Aber dafür tagt in Haidhausen, im Maximilianeum, das bayerische Parlament. Die Haidhauser machen daraus wenig Aufhebens, doch schämen tun sie sich auch nicht.

© SZ vom 11.10.2008/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: