Haftentlassung nach 50 Jahren:Was vom Leben übrig bleibt

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Er saß, als Willy Brandt Bundeskanzler wurde, er saß, als die Mauer fiel und der Euro kam: Der "Mittagsmörder" hat fünf Menschen getötet. Seit 47 Jahren sitzt Klaus G. hinter Gittern. In drei Jahren soll er entlassen werden. Nun wird dem alten Mann beigebracht, wie er kocht, wäscht - und was das Internet ist.

Annette Ramelsberger

Manchmal, wenn sie unter seinem Zellenfenster vorbeiging, hörte sie ihn Geige spielen. Die Tonleiter rauf, die Tonleiter runter. Exakt. Anja Ellinger hat ihn oft gehört, diesen Mann, und noch öfter hat sie ihn getroffen. Der Mann, der so gern Geige spielt, war lange Jahre Sprecher der Häftlinge in Straubing. "Sehr höflich, sehr diszipliniert, sehr kooperativ", sagt Ellinger, die Vize-Chefin des bayerischen Hochsicherheitsgefängnisses.

Justizvollzugsanstalt Straubing: Hinter einer dieser Türen wohnt Klaus G. nun schon seit 47 Jahren. (Foto: picture-alliance / dpa)

Immer wieder hat ihn die Anstaltsleitung deswegen auch mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut: Er durfte sogar raus, um zu überprüfen, ob die Preise, die im Knast für Rasierwasser und Zigaretten verlangt wurden, nicht überhöht waren. Natürlich wurde er bei diesen Nachforschungen fürsorglich begleitet.

Trotzdem sitzt dieser korrekte Mann nun seit 47 Jahren in Haft, länger als fast jeder andere in Deutschland. Er ist mittlerweile 72 Jahre alt. Er saß schon, als Neil Armstrong auf dem Mond landete. Er saß, als Willy Brandt Bundeskanzler wurde, er saß, als die Mauer fiel und der Euro kam - fast eine Ewigkeit. Und er hatte noch nie einen Euro in der Hand, denn im Gefängnis gibt es kein Bargeld. Der Mann hat auch seit 47 Jahren nicht gekocht, nicht gewaschen. Denn das Essen und die Wäsche wurden in die Zelle geliefert. Deswegen übt der alte Mann nun, wie man ein Spiegelei brät und wie man Hemden bügelt.

Denn nun geschieht, was seit 47 Jahren für unmöglich gehalten wird: Die Ewigkeit hat ein Ende. Der Häftling soll doch noch einmal in Freiheit leben. Klaus G. heißt er, und das Oberlandesgericht Nürnberg entschied gerade, dass er im Jahr 2015 auf Bewährung entlassen werden soll. Ein Psychiater habe das für "grundsätzlich verantwortbar" gehalten. Drei Jahre hat er Zeit, sich auf das neue Leben vorzubereiten.

Dann wird Klaus G. 50 Jahre hinter Gittern verbracht haben. So lange wie nur noch ein anderer Häftling in Deutschland, der in Bruchsal in Baden-Württemberg sitzt. In Straubing, wo die meisten Lebenslänglichen sitzen, gibt es nur noch zwei Männer, die annähernd so lange in Haft sind: ein Frauen- und ein Mädchenmörder, der eine seit 44 Jahren, der andere seit 43. Klaus G. sitzt mit Abstand am längsten.

Klaus G. ist nicht einfach nur ein alter Mann im Knast. Er ist der "Mittagsmörder", ein Verbrecher, der in den Sechzigerjahren rund um Nürnberg fünf Menschen tötete - kaltblütig. Er schoss ohne Vorwarnung. "Ein Mann ohne Seele", schrieben die Zeitungen damals, der immer in der Mittagspause kam. Auf der einen Seite gab er sich als braver Schüler und Student, auf der anderen besorgte er sich Waffen, um sich überlegen zu fühlen.

Zwischen 1960 und 1965 überfiel er Banken. Er erschoss den Filialleiter einer Sparkasse und entkam mit 3000 Mark Beute. Er erschoss einen Kunden, weil der in seine Brusttasche griff, um seine Brille hervorzuholen. Dann erschoss er Mutter und Sohn, denen ein Waffengeschäft gehörte. Auch sie in der Mittagszeit. Am 1. Juni 1965 dann versuchte Klaus G. in einem Kaufhaus, einer Frau die Handtasche zu rauben.

Auf der Flucht erschoss er den Hausmeister, der sich ihm in den Weg stellte, und verletzte zwei Kunden, einen von ihnen schwer. Dann überwältigten ihn Polizisten. Er wurde wegen fünffachen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit verurteilt. Das war damals noch möglich, vor der Strafrechtsreform in den siebziger Jahren. So lange ist das alles her.

Klaus G. hat im Frühjahr einen Brief an sein Heimatblatt geschrieben, die Hersbrucker Zeitung. Was die Menschen dort über ihn denken, ist ihm immer noch wichtig. In dem Brief schreibt er, wie er sich verändert hat in all den Jahren - von damals, als er 26 war und Student, bis heute. Andere könnten den Eindruck haben, er sei "kaltschnäuzig, skrupellos und ein gnadenloser Killer". Damit werde eine Person konstruiert, die es in Wirklichkeit gar nicht gebe, schreibt er.

"Einer, der in jungen Jahren so viel anstellt wie ich, muss nach allgemeiner Meinung gefühllos und kaltschnäuzig sein. Das bin ich aber eigentlich nicht. Ich räume aber ein, zum Zeitpunkt der früheren Untaten mag das schon so gewesen sein. Doch jetzt habe ich mich vollkommen geändert." Damals habe ihm die Mutter verboten, seinen Traumberuf zu ergreifen, Förster, und auch eine Liebschaft mit einem Mädchen habe sie auseinandergebracht. Das habe er nicht verkraftet.

Mehr als zwölf Mal wurde Klaus G. von Psychiatern daraufhin untersucht, ob er noch gefährlich ist. Sie kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Anfang 2010 gab es schon Hafterleichterungen, da wurde Klaus G. ausgeführt - in jenes Männerwohnheim, in dem er demnächst leben soll. Das Landgericht Regensburg hatte die Strafe damals auf Bewährung aussetzen wollen - gerade mit Blick auf sein Alter.

Das Oberlandesgericht Nürnberg hatte die Lockerungen schnell wieder untersagt. Das Risiko, dass Klaus G. erneut ein schwerwiegendes Verbrechen begehe, sei noch zu groß. Dann aber hob das Bundesverfassungsgericht im November 2011 die Entscheidung auf. Darauf ist Klaus G. richtig stolz. "Die Verfassungsbeschwerde habe ich genau genommen selber verfasst", schreibt er. Er habe halt in der Jugend Bildung beigebracht bekommen und logisches Denken.

Klaus G. erwartet nicht sehr viel von seinem neuen Leben. "Ein kärglicher Lebensabend in Freiheit wird mir noch beschieden sein", meint er. Zuerst müsse er wohl in einem Strafentlassenenheim wohnen, um sich an die neue Welt zu gewöhnen. Mit "kärglich" hat der Häftling recht - denn die Strafgefangenen arbeiten zwar im Knast, aber sie erwerben dadurch keinen Rentenanspruch. Und Klaus G. war Student, als er in Haft kam, da hatte er noch nicht für die Rente eingezahlt. Einer wie er ist auf Sozialhilfe angewiesen. Das wird kein luxuriöses Leben.

Justizvollzugsanstalt Straubing, Hinter deutschen Gittern Langsträfler (Foto: Carmen Wolf)

Der Gewöhnungsprozess beginnt schon jetzt. Klaus G. lebt nun im "Entlassungsvollzug", einer Abteilung, in der die Häftlinge einen Gemeinschaftsraum haben. Und eine Küche, wo sie gemeinsam kochen sollen. Die Haftanstalt hat eine Waschmaschine bestellt, damit er lernt, wie man wäscht. Ein Sozialpädagoge erklärt ihm, wie man jetzt am Automaten Fahrkarten kauft und wie das Internet funktioniert. Das alles gab es nicht, als Klaus G. in Haft kam. Die JVA wird bald prüfen, wann es begleiteten Ausgang gibt, wann unbegleiteten, ob der Häftling mal übers Wochenende wegbleiben kann. Wenn dann nichts vorfällt, werden die Lockerungen immer größer - bis zur Entlassung.

Der Mittagsmörder kommt frei, ein anderer bleibt in Haft: der Mädchenmörder von Kaltenbrunn. Er sitzt schon 43 Jahre in Haft. Der Mann hatte Ende der Sechzigerjahre in Oberfranken drei junge Mädchen sadistisch gequält und getötet. Eigentlich sollte er jetzt im September rauskommen. Alles war vorbereitet, nun hat das Landgericht Regensburg die Entlassung quasi in letzter Minute ausgesetzt. Der Mann erscheint noch als zu gefährlich.

© SZ vom 06.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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