SZ-Serie: Bühne? Frei!:Geister der Straße

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Der Sänger, Gitarrist und Banjospieler Philip Bradatsch wurde 1985 in Kaufbeuren geboren. Auf seinem aktuellen Album "Jesus von Haidhausen" singt er zum ersten Mal deutsch. (Foto: Sebastian Weidenbach)

Kultur-Lockdown, Tag 11: Der Sänger erinnert sich an schräge und schaurige Tour-Begegnungen aus den vergangenen Jahren

Gastbeitrag von Philip Bradatsch

Wo geht ihr hin, wenn es Nacht wird? Nicht wenn es dunkel wird, sondern wenn die Lichter angehen? Leuchten, dröhnen, funkeln, wie verrückt gewordene Sterne oder Kopfschmerzen. Wenn man die Bushaltestelle verlässt, und alles klingt nach "Freddie Freeloader" oder von mir aus auch "Boys of Summer".

Ständig holen mich in den vergangenen Monaten die Geister und Gestalten der letzten zehn Jahre, die ich auf Tour verbracht habe, wieder ein. Mad to live, mad to talk. Der wunderbare, zwei Meter zwanzig große Ire, der mich bei ihm schlafen lässt und mir Schwarztee kocht, wenn ich ihm dafür die Nacht über einen Joint nach dem anderen rolle und mit seinen Katzen rede. Eine gewisse Chantal Kiesinger, die sich in einer Rotlichtbar in Zürich an mir vorbeidrängt und mir zur Zugabe gratuliert. Dass sie den Laden betreten hat, nachdem jeder meiner Töne längst verklungen war? Geschenkt. Wollte uns der Kerl mit seiner Gartenschere wirklich umbringen? Und was macht unser zukünftiger Ex-Manager auf dem Tresen der Kiezkneipe? Hey, das ist gar nicht der Typ, dem der Laden gehört, wahrscheinlich gibt's von dem dann auch keine Kohle. Nachts von Rom bis Rosenheim, wann war gleich noch Soundcheck? MDMA, anyone? Hat einer die Nummer vom Veranstalter? Hier gibt's keinen Techniker, aber es gibt diese Kiste mit Kabeln und dazu Bier soviel du willst. Ach, Hotel dachtest du? Was trinkst du? Zwanzig Euro? Echt jetzt? Hast du auch Aufkleber? Voll nice. Kann man davon leben? Gibt's dein Album auch im Netz? Ich kenn' jemanden, der sieht genauso aus wie du, kein Scheiß ... Man kann auf tausend verschiedene Arten gedemütigt werden, solange man ab und zu gewinnt. Lass noch auf 'nen Drink weiterziehen. Schlüsselkarte, Ladekabel, Parkscheinautomat, Straßenlaterne.

"Spiel doch mal wieder was vom ersten Album!" "Spiel doch du was von deinem ersten Album", mehr fällt mir dazu gerade nicht ein. Nicht jetzt. Ein zartes Intro, "Feels Like Rain" vielleicht, und die Gastrokaffeemaschine fängt an zu rumpeln. Rauchend vor der Bar. Gegenüber die Spelunken an den Ecken, ein kurzer Blick in die Gassen, es riecht nach Pisse, der Sound der Spielhöllen und Straßenbahnen, vielleicht regnet es ja wirklich noch heute Abend. Und in der Küche schmeißt Melinda ... ja, was denn eigentlich? Brennt da irgendwo noch Licht? Auf einem Hocker neben mir ein alter Mann. Hinter den Flaschen ein mattes Spiegelbild.

Es ist ein unmögliches Leben, das habe ich gesungen in einem Lied namens "Flüsse", und dann kam die Flut wirklich, und alles war wie weggeblasen. Ausgeschaltet. Aus seiner Ecke sang Chuck Prophet dann im Sommer: "The Land That Time Forgot", und auf einmal fühlten wir uns alle wie Vergessene. Übergangene, die von keinem gesehen werden wollten. Denn es ist nicht die Kultur, die ihr retten müsst, verdammt noch mal. Die ist eh konserviert, wenn nicht für immer, dann bestimmt für 500 Jahre oder so. Schon mal in 'nem Museum gewesen, Sportsfreund? Nein, die Kultur ist das Einzige, das euch retten kann, schreit Melinda aus der Küche und dreht Bowie auf volle Lautstärke. Soll mir recht sein. Lasst uns tanzen.

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© SZ vom 12.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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