SZ-Serie: Bühne? Frei!:Das große Ganze

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Kultur-Lockdown, Tag 17: Die Oboistin erzählt ihrem Publikum vom gemeinsamen Geben und Nehmen

Gastbeitrag von Marie-Luise Modersohn

"Cogito, ergo sum" - ich denke, also bin ich - muss für mich immer in Harmonie stehen zu "Sentio, ergo sum" - ich fühle, also bin ich. In diesen Zeiten erlebe ich eine Dissonanz zwischen Gefühl und Verstand. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen nicht mehr zu Konzerten zusammenkommen dürfen, aber es fühlt sich nicht gut an.

Wenn ich an die Zeit ohne Konzerte denke, bin ich einfach traurig. Meinen freiberuflichen Kollegen wurde die Lebensgrundlage entzogen, viele sind verzweifelt. Dabei haben sie so viel zu geben. Auch unser Publikum wird traurig sein. Mit wehmütigen Gedanken bin ich bei unseren Abonnenten, die uns zum Teil seit Jahrzehnten so liebevoll und treu begleiten. Wo Konzerte ein wichtiger Teil des Lebens waren, klafft nun eine Fermate mit offenem Ausgang. Und doch hat diese Pandemie Begegnungen ermöglicht, die sonst aus Zeitmangel niemals möglich gewesen wären. Wir haben mit Abonnenten telefoniert, wir konnten bei per Los ausgewählten Abonnenten Gartenkonzerte geben, und überall wurden wir freudig empfangen. Das Strahlen in den Gesichtern, die Tränen der Rührung zeigten mir, dass Konzerte durch nichts zu ersetzen sind.

Warum? Im Konzert wirkt die Musik unmittelbar und kann Gefühle bewegen. Wer traurig ist, wird getröstet. Wer unruhig ist, findet zur Ruhe. Wer fröhlich ist, wird euphorisch. Nichts lenkt von außen ab, das Lauschen der Musik bringt einen in den Zustand des "In-sich-Hineinhörens". Man wird erhoben in eine andere Sphäre, Blockaden und Ängste lösen sich. Musik wirkt reinigend, heilend und bringt Lebensfreude.

Meine schönsten Konzerterlebnisse hängen immer mit dem Publikum zusammen. Wenn durch 2400 Gesichter ein Lächeln huscht, wenn ich selbst gerührt bin und im Saal die Taschentücher sichtbar werden, wenn die Entrückung spürbar wird und es eine Verbindung gibt, entsteht ein Zauber. Auf Tourneen erleben wir diese Momente auch, das Publikum spricht vielleicht nicht unsere Sprache und hat vielleicht eine andere Kultur, es fühlt aber ähnlich. Musik vereint uns Menschen.

Als Orchestermusikerin bin ich Teil eines großen Ganzen, im Vordergrund steht das Dienen der Musik. Das gemeinschaftliche Streben nach dem musikalischen Ideal ist erfüllend. Oft fühle ich mich von der Musik und den Kollegen getragen, wir müssen und dürfen uns aufeinander verlassen. Aber das gemeinschaftliche Proben und das Üben allein bringen nicht die Erfüllung eines Konzerts. Erst durch die Zuhörerinnen und Zuhörer entstehen die Vorfreude und eine Spannung, die uns zu Höchstleistungen bringen. Das Publikum schenkt uns Dankbarkeit und Begeisterung. Es ist ein Geben und Nehmen durch die gemeinsame Liebe zur Musik.

Seit Beginn der Pandemie sehe ich immer mehr Menschen in der Natur. Sie wirkt heilsam wie die Musik. Auch dort kommen wir zur Ruhe und können die Schönheit bestaunen. Beides müssen wir

bewahren. Die Natur erlebe ich lieber allein oder zu zweit. Gemeinschaft erlebe ich in Konzerten, wenn die Seelen der Menschen an einem selben Ort zur selben Zeit zum Schwingen gebracht werden. Es entsteht Nähe trotz körperlicher Distanz.

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© SZ vom 18.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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