SZ-Serie: Bühne? Frei!:In der Rolle des Kindes

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Alix Michell ist seit September 2020 Studienleiterin für Kunst, Kultur, Digitales und Bildung an der Evangelischen Akademie Tutzing, die derzeit nur digitale Veranstaltungen anbietet. (Foto: Privat)

Kultur-Lockdown, Tag 45: Die Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Tutzing sucht weiterhin den Austausch

Gastbeitrag von Alix Michell

Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause hörte ich im Radio kürzlich eine dieser Sendungen, in der Kinder anrufen und von ihren Weihnachtswünschen erzählen konnten. Ein Anruf hat mich besonders beeindruckt: Das Kind wünschte sich entweder, dass zu Weihnachten Corona vorüber sei oder dass es dann schneite. Es war dabei ganz optimistisch, dass einer der Wünsche in Erfüllung gehen würde, denn wenn Corona nicht verschwunden sei, dann führen eben weiterhin weniger Menschen in ihren Autos herum, flögen weniger Flugzeuge und das sei ja gut fürs Klima und so gäbe es immerhin weiße Weihnachten. Das Kind hat mich nicht nur wegen seines Optimismus beeindruckt, es hat auch eine Weitsicht an den Tag gelegt, wie es einer ganzen Menge Erwachsener, die eine ganze Menge Verantwortung tragen, in diesem virusgepägten Jahr nicht gelungen ist.

Wir haben das Coronavirus in all seiner Drastik kennengelernt, wissen um die Gefahr, die es für Existenzen, Leib und Leben haben kann. Doch rutscht eine Gefahr im politisch geführten Kampf gegen das Virus oft hintenüber. Es ist die Gefahr, dass der Coronadiskurs andere, wichtige Diskurse verdrängt. Hatte der Klimadiskurs beispielsweise zu Beginn des Jahres 2020 eine Öffentlichkeit erreicht, mit der es so aussah, als ließe sich etwas bewegen, wurde diese nun zu weiten Teilen überlagert. Die Debatte um eine angemessene Bezahlung von Pflegepersonal wurde durch das Virus scheinbar zunächst katalysiert, dann aber diskret wegapplaudiert. Hatten die Begleitumstände des Coronavirus zu Beginn der Pandemie noch als Brennglas für gesellschaftliche Probleme fungieren können, scheint sich dieser Effekt abzunutzen.

Ich denke, hier setzt das unverzichtbare Potenzial der Kulturarbeit an. Gewissermaßen in der Rolle des Kindes nicht nur einen Überblick zu versuchen, sondern auch Dinge im Fokus zu behalten, die im breit geführten Diskurs nicht oder kaum repräsentiert sind. Das zu tun, was Kunst und Kultur in einer Demokratie eben tun: gleichermaßen mittendrin und dabei zu sein, Zusammenhänge zu sehen, Gespräche zu provozieren, spielerisch, radikal, ästhetisch.

Manchmal denke ich, es mag Zeiten geben, die mögen günstiger scheinen, um in solch einen Beruf einzusteigen, der die Organisation und Begleitung von Kultur- und Bildungsveranstaltungen zum Gegenstand hat. Eine Arbeit, deren Kern darin besteht, Menschen sowohl auf physischer als auch auf gedanklicher Ebene zusammen und in einen Austausch zu bringen. Zeiten, die sich dahingehend widerstandsfreier darstellen könnten, als unsere gegenwärtige, von Unwägbarkeiten und physischer Distanz geprägte. Dann wieder antworte ich mir selbst: Nein, eben diese Zeit ist eine, in welcher solche Orte des Austauschs besonders wichtig werden. Diese Orte der Begegnung und des voneinander und miteinander Lernens, wenn schon nicht analog, dann wenigstens digital - oder gedruckt in der Zeitung.

Alle Folgen der Serie auf sz.de/kultur-lockdown

© SZ vom 16.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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