Vor Gericht:16 Seiten Gewalt

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Ein 20-Jähriger Olchinger und zwei Freunde müssen sich in einem Großprozess wegen zahlreicher schwerer Straftaten verantworten. Alle drei wurden in der Kindheit traumatisiert und teils schwer misshandelt

Von Florian J. Haamann, München/Fürstenfeldbruck

Vergewaltigung, mehrfache gefährliche Körperverletzung, Bedrohung, Drogenhandel: Die Liste an Vorwürfen, wegen derer sich ein 20-jähriger Olchinger als Hauptangeklagter und zwei seiner Freunde vor dem Münchner Landgericht verantworten müssen, ist lang. So lang, dass die Anklageschrift 16 Seiten umfasst und die Verhandlung auf 13 Tage angesetzt ist. Zum Auftakt des Prozesses am Dienstag geht es erst einmal um die persönlichen Geschichten des Trios und dann um die eine Tat, die schließlich zur Verhaftung geführt hat - eine Auseinandersetzung Anfang Oktober 2020 am Olchinger See.

Laut Anklage haben der 20-Jährige und seine beiden Freunde, ein 23-jähriger Fürstenfeldbrucker, der zuletzt obdachlos war, und ein 21-jähriger Gröbenzeller, dort gegen 22 Uhr einen Bekannten aufgesucht. Der Plan des 20-Jährigen sei gewesen, diesem Angst zu machen, damit er ihn wegen eines früheren Angriffs nicht bei der Polizei anzeigt. Dazu soll der 23-Jährige das Opfer von einer Bank gezerrt und auf dem Boden fixiert haben. Beim anschließenden Kampf, soll das Opfer ein Messer gezogen haben, das ihm wiederum abgenommen und vom 23-Jährigen gegen ihn gerichtet worden sei. Im Laufe des Angriffs soll es außerdem zu Schlägen und Tritten gegen das letztlich schwer verletzte Opfer gekommen sein.

Bevor sich die Angeklagten allerdings zum Ablauf dieses Abends äußern, geben sie einen Einblick in ihre Lebensgeschichten, die sich an vielen Punkten überschneiden. Alle drei leiden als Kinder an ADHS, werden mit Medikamenten behandelt. Alle drei kommen aus desaströsen Familienverhältnissen und konsumieren regelmäßig Cannabis und Alkohol. Die beiden Freunde des Hauptangeklagten berichten außerdem von frühen Gewalterfahrungen, beide sind früh in verschiedene Heime gekommen.

Der Hauptangeklagte ist ab dem zweiten Lebensmonat bei Pflegeeltern aufgewachsen, die Mutter war drogen- und alkoholsüchtig, vom Konsum während der Schwangerschaft hat er Schäden davon getragen, die seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Das Leben in der Pflegefamilie sei gut gewesen, bis er mit 18 Jahren seine Freundin kennengelernt habe.

Da seien dann die Probleme losgegangen, die er irgendwann mit bis zu einer Flasche Wodka pro Tag bekämpfen wollte. In dieser Zeit soll er mehrfach seine Freundin und spätere Verlobte - mit der er auch ein Kind erwartete - körperlich misshandelt, einmal vergewaltigt und ein weiteres Mal zu vergewaltigen versucht haben. Um diese Taten wird es an späteren Verhandlungstagen gehen.

Der 23-jährige Gröbenzeller erzählt von mehreren Heimaufenthalten, einer Haftstrafe, einem mehrjährigen Projekt mit intensiver Betreuung in Spanien. In dieser Zeit geht es für ihn bergauf, er ist kurz davor, seinen Realschulabschluss zu machen. Das Verhältnis zu den Betreuern und den anderen Jugendlichen beschreibt er als "kleine Familie". Bei einem Besuch in Deutschland bittet ihn die Mutter, wieder zurück zu kommen. In einer "Kurzschlussreaktion" folgt er ihrem Wunsch. Obwohl, wie er erzählt, sie früher oft betont habe, dass sie ihn und seine vier Geschwister nur wegen des Kindergeldes bekommen habe. "Ich habe das Gefühl gehabt, dass meine Mutter mich als Kind weggeschmissen hat".

Von Monaten ohne Strom, weil es am Geld fehlt, Tütennudeln, die über dem Campingkocher warm gemacht werden und einer stets abwesenden Mutter, die ihn mit der Wohnung sitzen lässt, als der große Bruder ins Gefängnis kommt, berichtet der 21-jährige Gröbenzeller. Um die Vergangenheit zu vergessen, nimmt er Drogen und trinkt Alkohol. In diesem Zustand sei er auch nach einem Anruf des Hauptangeklagten am Olchinger See angekommen. Durch die Drogen sei er so im Rausch gewesen, dass er kaum etwas mitbekommen habe. Er habe lediglich den Begleiter des Opfers in Schach gehalten. Auch der 23-Jährige, der bei diesem Übergriff laut Staatsanwaltschaft der Haupttäter gewesen ist, kann sich nur an wenig erinnern. Dass es zu Gewalt gekommen ist, bestreitet er nicht, was genau er getan habe, könne er aber nicht sagen. Der Plan sei eigentlich nur gewesen, dem Opfer "Angst einzujagen". Die Eskalation sei eine "dumme Aktion" gewesen.

© SZ vom 13.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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