Theater:Feminin und fragil

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Die auf die Hauptdarstellerin "Wassa" (links) fokussierte Inszenierung lässt sich auch als gescheiterte feministische Revolution deuten. (Foto: Günther Reger)

Das Theater 5 gastiert mit Gorkis Familiendrama "Wassa Schelesnowa"

Von Valentina Finger, Fürstenfeldbruck

Es bedeutet etwas, wenn Autoren ihr Werk nach einer Figur benennen. Mit mangelnder Kreativität hat das nichts zu tun. Vielmehr wird dadurch von vornherein der Fokus gelenkt: Jemand, nicht etwas, steht im Mittelpunkt dessen, was nach dem Titel folgt. Es ist also durchaus berechtigt, dass Regisseur Matthias Weber in seiner Interpretation von Maxim Gorkis "Wassa Schelesnowa" von 1935 weniger den Kontext des vorrevolutionären Russlands als das Familiendrama in den Vordergrund rückt. Mit Webers Inszenierung gastiert das Theater 5 zurzeit an der Neuen Bühne Bruck.

Das Bühnenbild spricht so deutlich wie der Dramentitel. In der Mitte steht ein Schreibtisch, klobig, alle Aufmerksamkeit an sich reißend, wie die titelgebende Matriarchin. Ein Phallussymbol ist dieser Klotz, wer an ihm sitzt, hat zumindest zeitweilig die Kontrolle. Und doch ist er gleichsam viel zu groß für die zierliche, zerbrechlich wirkende Wassa, gespielt von Eva-Maria Gruber. Ein Blick auf ihren Arbeitsplatz genügt, um zu verstehen: Sie kompensiert ihre Angst vor Kontrollverlust mit visuellen Machtinsignien. Dennoch wächst ihr die Aufgabe über den Kopf.

Eva-Maria Gruber hat Wassa verstanden. Eine herzlose Tyrannin, nur auf Ruhm und Ruf bedacht, ist das, was man zu sehen glaubt. Doch in ihre leisen Seufzer packt Gruber Wassas ganzes Seelenleid. Kann man ihr verübeln, dass sie keine Zeit für ihre Töchter hat, wenn sie die alleinige Verantwortung für das familiäre Reederei-Imperium trägt? Ist es wirklich nicht nachvollziehbar, dass sie ihren Mann tot sehen will, wenn dieser sie jahrelang gedemütigt hat, um ihr nun, da sie versucht, seine Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs zu verhindern, noch vorzuwerfen, sie wäre mit Bestechungsgeldern zu geizig gewesen? Neun Kinder hat sie geboren, nur drei haben überlebt. Und keines zeigt Ambitionen, ihr nachzufolgen. Wenn diese Frau nicht das Recht hat, einen Schutzpanzer aufzubauen, dann wohl niemand.

Vielleicht musste Wassa deshalb blond sein. Die helle Perücke wirkt wie eine Maske über der Maske, eine Überbetonung des Feminin-Fragilen, das unter ihrer männlichen Attitüde verborgen ist. Das scheinbare Kontrastbild zur kontrollierten Wassa ist ihre Tochter Natalja, gespielt von Aline Pronnet. Sie ist laut, sie spuckt, sie trinkt. Ungehemmt und brutal wirkt sie. Doch verraten ihre hilflosen Blicke und eine verschämte Träne über den Tod ihrer Mutter, dass auch das nur Fassade ist.

Keine Maske legt Prochor, Wassas gewissenlos gieriger Bruder, an. Die körperliche Zudringlichkeit in der Darbietung von Andreas Beer ist der fühlbare Ausdruck seiner Habsucht. Seine Nichte will er sich ebenso gefügig machen wie das Dienstmädchen. Die inzestuöse Projektion der eigenen Schwester auf deren Tochter ist nicht zu übersehen. Wenn er Wassas Fleisch und Blut dominiert, übermannt er sie, wird selbst zum Patriarchen. Wassas Position reißt er wiederholt an sich: Während die anderen Charaktere um den Schreibtisch herumschwänzeln, lässt er der sich immer wieder wie selbstverständlich im Chefsessel dahinter nieder. Wassas zweite Tochter Ljudmila dagegen ist gutgläubig und allen wohlgesonnen. Zurückgeblieben sei sie, weil das Treiben ihres Vaters sie verstört habe, sagt Wassa. Aber ist das nicht ihr Glück? Wo die anderen Charaktere permanent kämpfen, will Ljudmila, gespielt von Eloise Sanders, einfach nur leben. Während Prochor sich also gewaltsam an Natalja vergreift, genießt Ljudmila im selben Moment ein einvernehmliches Liebesspiel mit einem Matrosen.

Ljudmila erlebt ihre erste Intimität auf Wassas Schreibtisch, dort, wo ihre Mutter ums Überleben des Familienunternehmens ringt - und schließlich die Kontrolle verliert. Die Symbolkraft von Webers Inszenierung hält sich bis zum Ende: Wassa stirbt zusammengesunken an ihrem Arbeitsplatz. Mit letzten Kräften verkrallt sie sich in ihrem Vermächtnis. Doch umsonst: Ihr Bruder, ein Mann, wird ihren Platz einnehmen, wie es sich angekündigt hat. Gelesen werden kann Gorkis Stück mit diesem Familienfokus folglich ebenso als eine gescheiterte feministische Revolution.

Die nächsten Aufführungen von "Wassa Schelesnowa" des Theater 5 an der Neuen Bühne Bruck gibt es an diesem Freitag und Sonntag, 7. und 9. Juli, jeweils um 20 Uhr; Karten unter: 08141/18589.

© SZ vom 04.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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