SZ-Serie "Inklusion" (Teil 15):Friedensarbeit am Fröbelweg

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Im Haus der Kinder in Puchheim kommen Buben und Mädchen aus 18 Nationen zusammen. Sie haben unterschiedliche Probleme und einen jeweils sehr individuellen Förderbedarf - Aufgaben, denen sich die Pädagogen stellen

Von Erich C. Setzwein, Puchheim

Der kleine Mola (Name geändert) schreit nach seiner Mama. Es ist ein verzweifeltes, von Weinen durchzogenes Schreien. So, als ob die Mama den Dreijährigen verlassen hätte. Dabei sitzt Molas Mutter nur wenige Meter von ihm entfernt im Gang des Kindergartens am Fröbelweg in Puchheim. Nur, Mola sieht die Mama nicht, er soll sich an die Gruppe gewöhnen, in die der Dreijährige vor Kurzem aufgenommen wurde. Seine Erzieher bemühen sich, Mola zu beruhigen. Aber sie sprechen Molas Sprache nicht, und der Kleine kann kein Deutsch. Seine Mutter auch nicht. So wird der Eingewöhnungsprozess doppelt schwierig. Langsam Abschied von der Mutter nehmen ist das eine, das andere die Gewöhnung an die deutsche Sprache. Denn auch wenn die meisten Kinder in Molas Gruppe als erste Sprache nicht Deutsch gelernt haben, so wachsen sie in ihren drei Kindergartenjahren doch damit auf.

"Er muss erst eine Beziehung aufbauen", sagt Barbara Katzameier über den Buben mit afrikanischen Eltern. Katzameier ist die Leiterin der von der Nachbarschaftshilfe Puchheim getragenen Kinderbetreuungseinrichtung. Sie hat schon viele Abschiede und Entwöhnungen erlebt und mindestens genauso viele Glücksmomente an jenen Tagen, an denen die Kleinen ihre Mama oder den Papa selbst nach Hause geschickt haben, weil sie sie im Kindergartenalltag nicht mehr brauchten. "Meistens können die Mütter nicht loslassen", berichtet die Leiterin aus ihrer langjährigen Erfahrung.

In Puchheim haben Katzameier und ihr Team vorwiegend mit den Müttern zu tun. "Die Väter kümmern sich weniger, schon gar nicht, wenn das Kind behindert ist." Das hat mit den verschiedenen Kulturkreisen zu tun, aus denen die Familien kommen und in denen Behinderung sogar als Schande angesehen wird. Etwa 80 Buben und Mädchen werden am Fröbelweg in der Puchheimer Planie derzeit betreut, pro Gruppe sind es ein bis zwei, die eine Behinderung haben. 80 Prozent der Kinder stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Barbara Katzameier sieht dies nicht als Problem, sondern als Chance. "Ich möchte die Kulturen der Familien ins Haus holen, ich will ihre Erziehungskultur verstehen." Das hat schon gut geklappt, als die Familien zum Sommerfest kamen. Bei solchen Gelegenheiten werden Hemmschwellen abgebaut, Barrieren, die es sonst schwer machen würden, das Ziel zu erreichen, das Katzameier sich und den Eltern vorgibt: "Erziehungspartnerschaft". Der Begriff wird auch in anderen Einrichtungen verwendet, unter Erziehern jedenfalls ist das nichts Besonderes. Am Fröbelweg dagegen schon.

Das "Haus der Kinder", in dem es 2013 noch 126 Plätze gab und in dem, seit Katzameier die Leitung hat, die Zahl der Plätze deutlich reduziert und die des Personals aufgestockt wurde, versteht sich als Einrichtung, in der Inklusion gelebt werden soll. Kinder aus Migrantenfamilien treffen in der Gruppe auf deutsche Kinder, verstehen sich am Anfang nicht und lernen nach und nach zu kommunizieren. Am leichtesten scheint es über das Singen zu laufen. Die Lautsprache in Verbindung mit Bewegung ermöglicht ein leichteres Lernen und Verstehen. Rituale, wie das Guten-Morgenlied, das häufige Wiederholen, die eingängige Lautmelodie, versetzen die Kinder mit der Zeit in die Lage, sich auf Deutsch untereinander und mit den Erziehern zu verständigen. Es wird viel mit Bildern gearbeitet. Seit April dieses Jahres darf sich das Haus der Kinder auch "Sprach-Kita" nennen. Seitdem ist es in ein Bundesförderprogramm für die Spracherziehung aufgenommen worden, und aus diesem Programm wird eine eigens eingestellte Fachkraft bezahlt.

Manche Kinder aber schaffen es nicht, in ein paar Monaten Grundkenntnisse zu erlernen, sie brauchen länger. Auch nach einem Jahr können sie noch keine ganzen Sätze sprechen, bleibt der Wortschatz gering. Das hat, wie Barbara Katzameier es ausdrückt, mit dem Bildungshintergrund in den Familien zu tun. Es wird in der Muttersprache gesprochen, die Kinder kommen außerhalb des Kindergartens nicht mit deutschen Kindern in Kontakt, "es gibt keinen Sprachanreiz". Nächstes Jahr, falls sich der Trend fortsetzt und keine deutsche Familie mehr ihr Kind in den Kindergarten am Fröbelweg schickt, könnte der Migrantenanteil auf 100 Prozent steigen.

Das wäre etwas Neues. In anderen, vergleichbar großen Kommunen liegt der Migrantenanteil in den Kindertagesstätten deutlich niedriger. In Olching, das rund 6000 Einwohner mehr als Puchheim hat, gibt es zwei Kindergärten, in denen zum Beispiel der Anteil der Flüchtlingskinder nur acht beziehungsweise 13 Prozent ausmacht.

Buben und Mädchen aus 18 Nationen werden im Haus der Kinder, das auch eine Krippengruppe beherbergt, erzogen. Bevor sie sich in einer Sprache unterhalten können, lernen sie sich beim gemeinsamen Spielen kennen. Die Buben können sich mit dem Erzieher Max Felsl abgeben, sie lernen von ihm, er strahlt die natürliche Autorität eines großen Bruders aus. Respekt und Anerkennung sollen sie lernen. Aber auch die Eltern werden dazu animiert lernen, dass es eben keine Schande ist, ein behindertes Kind groß zu ziehen. Wobei Katzameier darauf achtet, das Wort "Behinderung" zu vermeiden. "Kinder mit erhöhtem Förderbedarf" lautet die Umschreibung, die eine gängige ist.

Aber damit kann erreicht werden, dass sich Eltern, die sich durch die Geburt eines behinderten Kindes zurückgesetzt fühlen, doch zu diesem Kind bekennen können. Dabei geht es nicht nur um körperliche Defizite, viele Kinder haben Fluchterfahrung, sind traumatisiert, in ihrer motorischen Entwicklung verzögert oder sind sozial- und lernbehindert. Den Eltern aus dem arabisch sprechenden Raum, die selbst kaum deutsch können, wird von einem Dolmetscher übersetzt, welches Konzept der Kindergarten verfolgt, wie die Kinder gefördert werden können. "Und das alles ohne erhobenen Zeigefinger", betont die Kindergartenleiterin. Katzameier ist es wichtig, dass die Eltern sehen, was deren Kind kann, was es im Kindergarten macht. Bewährt hat sich ein Elterncafé, zu dem aber ausschließlich Mütter kommen. Es geht darum, Vertrauen aufzubauen, zu Müttern wie Vätern.

Zugunsten kommt der Einrichtung der Anstellungsschlüssel, der mit verschiedenen Faktoren für Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder mit Behinderung gebildet wird. In Regel-Kindergärten kommen auf eine Erzieherin elf Kinder. In der Puchheimer Einrichtung sind es zehn. 13 Erzieher kümmer sich um die Kinder, dazu kommt zeitweilig externes Fachpersonal, wie zum Beispiel Heilpädagogen, Logopäden, Ergotherapeuten. Zudem gibt es eine interdisziplinäre Frühförderstelle. Dazu ist es auch nötig, dass sich die Mitarbeiter ständig weiterbilden. Darauf legt die Nachbarschaftshilfe großen Wert, wie die stellvertretende Vorsitzende Isabella Brähler betont.

Denn je früher ein Defizit entdeckt wird, je früher damit begonnen werden kann, geeignete pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, desto leichter kann es dem Kind und auch seinen Eltern fallen, entweder das Defizit auszugleichen oder damit umgehen zu lernen. Und das alles eben "ohne erhobenen Zeigefinger". Also besser mit musikalischer Früherziehung, mit Kinderyoga, mit einem Tanzkurs. Aus dem Zap-Mehrgenerationenhaus kommen drei ältere Frauen zum Vorlesen, sie sind Lesepatinnen. Ein Buch vorgelesen zu bekommen, einen "Kuschelfaktor" dazu - dabei können Kinder zur Ruhe kommen und dieser ruhigen Umgebung auch lernen. Die Ruhe zu haben, die sie in ihren Familien, die aus dem Irak kommen, aus Afghanistan, dem Kosovo oder aus der Türkei, nicht immer finden.

Dass bei so viel Vielfalt keine Spannungen aufkommen, dass sich die Kinder untereinander verstehen lernen und dass das vielleicht auch in deren Familien Eingang findet, daran ist Barbara Katzameier viel gelegen. "Das ist meine Friedensarbeit."

© SZ vom 28.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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