Selbsthilfe:Problemlösendes Zusammentreffen

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In Selbsthilfegruppen beraten sich die Teilnehmenden gegenseitig. (Foto: Styleuneed/Imago/Panthermedia)

Ob Sucht oder Vereinsamung, für viele schier aussichtslose Lebenslagen finden sich Menschen zusammen, die einander unterstützen können. Sie tun es aus Erfahrung und Überzeugung.

Von Leonie Förderreuther

Er ist versteckt in Kuchen und Pralinen, er kann Gerichte verfeinern und als Getränk die Stimmung heben. Alkohol gesellschaftlich akzeptiert und doch eine tückische Falle. Nämlich für alle jene, die abhängig davon sind. Die Sucht sei zu stark im Gehirn verankert, um damit adäquat umgehen zu können. Ebenso ist es mit der Abhängigkeit von Nikotin. Hilfe finden Betroffene, wenn sie sich Unterstützung suchen, ihre Sucht zu bewältigen, oft in Selbsthilfegruppen. Bei einem Treffen von Selbsthilfegruppen im Landratsamt Fürstenfeldbruck wurde deutlich, welche Angebote gemacht werden können.

Fürstenfeldbruck sei ein begehrter Landkreis, erklärt Ute Köller. Sie arbeitet als Ressortleitung für Selbsthilfeunterstützung im Selbsthilfezentrum München und leitet das Treffen gemeinsam mit ihrem Kollegen Juri Chervinski. Begehrter Landkreis, das bedeutet: Zu Selbsthilfegruppen und Treffen wie diesen kämen immer Leute. Das Selbsthilfezentrum München ist zuständig für die Stadt und ihre umliegenden Landkreise. Es begreift sich als offenes Begegnungsangebot, als "Vermittlungssystem zwischen Selbstorganisation und Profisystem", unterstützt bei Förderanträgen, Organisation, Gründung und Entwicklung. Ziel soll es sein, Austauschmöglichkeiten zu bieten, das Thema in der Öffentlichkeit zu platzieren, die Hemmschwelle zu senken.

Selbsthilfe ist ein Angebot explizit von Betroffenen für Betroffenen. Es wird nicht von ausgebildeten "Profis" angeleitet, also beispielsweise Ärztinnen oder Therapeuten, sondern versteht Betroffene als Experten für die eigene Lebenssituation, mit eigenen Bewältigungsstrategien durch ihre Erfahrung. Diese können selbstorganisiert mit anderen Betroffenen ausgetauscht und weitergegeben werden. Selbsthilfe soll auch eine Form von Empowerment für Betroffene oder Angehörige sein. Selbsthilfegruppen finanzieren sich durch Krankenkassen und staatliche Stellen. Somit ist das Angebot für alle kostenlos.

Schließlich sei es auch eine große Entlastung für das Gesundheitssystem, erklärt ein Vertreter vom Verein Kreuzbund. Auf einen Therapieplatz müsse man in Deutschland häufig lange warten, es herrscht eine Knappheit. Angehörige und Betroffene können die psychische Belastung, die eine Sucht oder eine psychische Krankheit oft mit sich bringt, nicht allein tragen. Selbsthilfegruppen könnten in dieser Hinsicht für verschiedene Zwecke dienen, etwa wenn eine Therapie vor- oder nachbereitet werden müsse. Für Betroffene sei es wichtig, zu sehen, dass der Weg "begehbar" sei: Die Therapie habe bei anderen angeschlagen, und man sei nicht allein. Wichtig für die Effektivität sei aber vor allem, dass es "Klick macht", argumentiert ein anderer Teilnehmer. Personen, die Erfahrungen mit einem teilen, könnten da helfen. Und: Die Selbsthilfegruppen fangen nach einer Therapie auf. Der Vertreter von Kreuzbund sagt: Etwa 70Prozent der Alkoholkranken, die nach einer Therapie in eine Selbsthilfegruppe gehen würden, blieben trocken. Für solche, die sich nicht einer Selbsthilfegruppe anschließen, könne man "die Zahl umdrehen".

Der Kreuzbund ist ein eingetragener Verein, der sich an Menschen mit Alkohol- und Medikamentenabhängigkeiten richtet und, erklärt Juri Chervinski, "den Weg für die Nachsorge ebnet". Der Verein biete unter anderem regelmäßig Termine in der lokalen Entgiftungsstation an. Um die Sucht aus dem Gehirn zu bekommen. Einer der Betroffenen berichtet, er stopfe sich jeden Morgen noch eine Zigarette zum Kaffee - ohne sie zu rauchen. Er habe schon vor langer Zeit mit dem Rauchen aufgehört, aber die Zigarette bleibe für sein Gehirn ein wesentlicher Bestandteil des morgendlichen Kaffees. Ein anderer Teilnehmer erzählt von einer Bekannten, die nach zwanzig Jahren Trockenheit wieder Alkohol trank und sofort wieder rückfällig wurde.

Juri Chervinski und Ute Köller vom Selbsthilfezentrum München (Foto: Carmen Voxbrunner)

Deshalb gebe es Selbsthilfe. Selbsthilfe sei lebendig, sie entwickle sich stetig weiter und bringe immer wieder neue Erfolge. Außerdem, betont Ute Köller, gingen die Themen nie aus, es geben kein richtig oder falsch, und man könne immer eine Gruppe bilden, wenn Bedarf bestehe. Das Selbsthilfezentrum München würde Gründungen "engmaschig unterstützen und betreuen". Ihr wichtigster Rat, den sie Neugründungen immer mitgibt: "Man darf auch Leute ablehnen." Bei Selbsthilfe solle es darum gehen, dass "Menschen mit Ecken und Kanten" zusammenarbeiten, gemeinsam Wege finden. Nicht jeder sei dafür gemacht, sind sich die Vertreter der jeweiligen Gruppen, die ins Landratsamt gekommen sind, einig. Es gelte auch Grenzen zu setzen, um eine erfolgreiche Gruppe zu haben.

Und wo liegt die Zukunft der Selbsthilfe? Themen wird es wohl immer geben. Juri Chervinski hofft, dass Stigma rund um Selbsthilfegruppen in den jüngeren Generationen weniger eine Rolle spielen wird. Er beobachte ein "anderes Selbst- und Menschenverständnis" und den zunehmenden Drang, "Dinge in die Hand zu nehmen, weil sich andere nicht kümmern". Das Zentrum für Selbsthilfe erhebe auch Feldforschung zu diesen Themen und gibt soziologische Studien in Auftrag. Ute Köller bestätigt: "Junge Selbsthilfe nimmt Fahrt auf". Vor allem an Universitäten würden Studierende Initiative ergreifen, in München gibt es beispielsweise die Gruppe Support Groups for Change - eine Online-Selbsthilfegruppe, die sich aus der allgemeinen Vereinsamung Studierender in der Coronazeit gebildet habe. Und es gebe viele Angebote, die Juri Chervinski unter Selbsthilfe einordnen würde, sich selbst aber nicht so definieren.

"So viele Gespräche laufen, bevor man wirklich erfährt, was passiert." Das betont Juri Chervinski immer wieder, deshalb liebt er seine Arbeit. Es bleibe immer spannend. Der Drang, anderen zu helfen, steckt wohl auch in ihm.

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