Puchheim:Im Labor der Wunderheiler

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Andrey Verevkin und Oleg Shilov sind Datenretter. Die zwei russischstämmigen Puchheimer nehmen es mit deformierten Festplatten und verklebten Leseköpfen auf. Nur an komplexen Verschlüsselungen beißen auch sie sich manchmal die Zähne aus

Von Stefan Salger, Puchheim

Andrey Verevkins Zähne sind makellos, soweit man das beurteilen kann. Trotzdem besucht der 50-Jährige überraschend häufig einen der benachbarten Zahnärzte und bittet um eine Röntgenaufnahme. Amalgamfüllungen oder Karies sind auf den Bildern dann freilich nicht zu sehen, wohl aber versteckte elektronische Bauteile und Verbindungen. Mit dem Zahnarztbohrer kommt er anschließend auch nicht weiter - der auf Datenrettung spezialisierte Puchheimer greift in solchen Fällen zu kleinen Schraubenziehern oder Lötkolben, zu Kabeln und zu Computern.

Lässt man Juwelier, Versicherungsbüros und Arztpraxen links liegen und steigt in dem Gewerbebau am Bahnhof hinauf in den ersten Stock, dann steht man vor der Tür von "Doktor Data", einer Firma, deren Konkurrenten sich im weiten Umkreis an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Verevkin und sein Mitarbeiter Oleg Shilov gelten als ziemlich erfolgreich in ihrem Metier. Sie sind die digitalen Wunderheiler, die sich auch hoffnungsloser Fälle annehmen. Fälle, in denen Speicherkarten, Sticks oder Festplatten verbogen oder verschmort sind oder wichtige Daten irrtümlich gelöscht wurden.

So wie vor ein paar Wochen. Da klingelt an einem Freitag das Telefon. Am anderen Ende meldet sich ein ziemlich verzweifelter Mann. In einem Rechenzentrum, das virtuelle Clouds anbietet, also Daten-Speicherplatz, hat es einen Stromausfall gegeben. Drei der in einem sogenannten Raid-System kombinierten Festplatten machen keinen Mucks mehr. Eine Stunde später blicken Verevkin und Shilov bereits in ihrem Labor in den Serverschrank mit seinen 16 Festplatten. Es wirkt wie eine Operation am offenen Herzen. Um sie herum stehen ein Reinraum-Abteil, ein Mikroskop, Spezialgeräte, Bildschirme. Überall hängen rote Kabel wie Blutbahnen aus Computergehäusen ohne Seitenwände, die einen Blick auf die Platinen- und Prozessor-Eingeweide freigeben. Die festgeklebten Lese- und Schreibköpfe der Festplatten werden ausgetauscht, scheibchenweise zwei Terabyte Daten - so viel, wie auf 3000 CDs passen würden - wieder hergestellt. Insgesamt zwei Wochen dauert die Prozedur, dann kann der Patient die PC-Klinik verlassen. "Die waren happy, als sie die Dinger abgeholt haben", sagt Shilov und lacht.

Operation am offenen Herzen: Andrey Verevkin prüft per Diagnose- programm ein Laufwerk. Die roten Kabel wirken wie Blutbahnen. (Foto: Günther Reger)

So etwas kann schon mal bis zu 1500 Euro kosten, in der Regel stellen die beiden Datenretter aber je nach Aufwand und nur im Erfolgsfall zwischen 50 und 400 Euro in Rechnung. Es ist ein profitabler Job, gewiss, "aber es macht auch Spaß, den Leuten zu helfen", sagt Verevkin. Dafür nimmt er in Kauf, rund um die Uhr erreichbar zu sein. Der Reiz liegt darin, dass das alles oft wie ein großes Rätsel ist, das man erst mit einiger Hirnakrobatik lösen kann.

Auf einem der Tische im Labor liegt so ein vertrackter Fall. Eine Micro-SD-Karte aus einem Handy, die zunächst "ausgelotet", also von der Platine gelöst, und dann in mühevoller Kleinarbeit verdrahtet worden ist. Noch komplizierter: Zwei SSD-Laufwerke in einem Raid-Verbund. Vor der Datenrettung muss jede Platine mit viel Fingerspitzengefühl umgelötet werden. Die Münchner Uni zählt ebenso zu den Kunden wie die Bahn, deren IT-Abteilung bei einem Laptop mit ihrem Latein am Ende war. Und einem Kunden aus der Türkei konnten die Puchheimer Datenretter jüngst immerhin 80 Prozent der verlorenen Daten wieder zugänglich machen.

Es gibt Fälle, an denen sich aber auch Verevkin und Shilov die Zähne ausbeißen. Da war der verschlüsselte Sunforce-Prozessor, und da liegt dieses vermaledeite digitale Diktiergerät ohne Anschlussmöglichkeit an einen Computer. Der Speicher wurde ausgebaut, die Daten einer irrtümlich gelöschten und teils überschriebenen Audiodatei wurden wieder hergestellt. Dann aber war erst mal Ende: Die Audiodateien sind in einem speziellen Format abgespeichert und verschlüsselt - und der Hersteller hütet seine Betriebsgeheimnisse. "Da arbeiten wird noch dran, wir haben noch nicht aufgegeben", sagt Verevkin.

Fingerspitzengefühl ist beim Löten kleinster Bauteile gefragt. (Foto: Günther Reger)

Könnte er etwas ausrichten in Fällen wie jenem in Germering, als unbekannte Programmierer im Dezember die Computer einer Autozubehörfirma durch einen infizierten E-Mail-Anhang lahmgelegt und für die Freischaltung ein Lösegeld verlangt hatten? Nein, sagt Verevkin, zu gut verschlüsselt, nichts zu machen.

Mutmaßlich stammten die Programmierer des Computervirus aus Russland - ebenso wie die Hacker, die auf den US-Wahlkampf Einfluss genommen haben sollen. Die beiden Datenretter aus Puchheim sind der Beleg, dass das im einstigen Ostblock erworbene Rüstzeug sich aber viel sinnstiftender und völlig legal einsetzen lässt. Verevkin studierte Mikroelektronik in Tagarog. Auf die Sache mit der Datenrettung brachte ihn einst ein Studienfreund, der ein Praktikum in einer Festplattenfabrik in Rostow am Don gemacht hatte. Damals lohnte es sich schlichtweg, defekte Festplatten zu reparieren - mit oder ohne Daten. Gemeinsam mit seiner deutschstämmigen Frau kam Verevkin 1996 nach Fürstenwalde, arbeitete zunächst als Programmierer und später als Systemadministrator. Nach der Scheidung wechselte er zu einer Softwarefirma nach Krailling und machte sich 2012 schließlich selbständig.

Einem breiteren Publikum bekannt geworden sind die beiden Datenretter durch ihren zweiten Platz beim Gründungspreis der Fürstenfeldbrucker Sparkasse, vor allem aber durch einen Vergleichstest von Stern TV. Der Sender hatte USB-Festplatten, von denen zuvor die Daten in den Papierkorb verschoben und dieser gelöscht worden war, an mehrere Dienstleister geschickt und eine kostenlose Diagnose nebst Kostenschätzung erbeten. Eine Firma machte ein Angebot über 3500 Euro. Verevkin gewann den Vergleichstest mit dem Kostenvoranschlag über 59,50 Euro. Es seien schon auch Scharlatane in der Branche unterwegs, sagt er, die die Not und Unwissenheit der Opfer ausnutzten.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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