Privatinsolvenz:Der Schuldenberg wächst

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Einkommensverluste durch die Folgen von Corona lassen im Landkreis die Zahl derjenigen Menschen sprunghaft ansteigen, die ihre Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen können und sich an die Berater der Caritas wenden

Von Gerhard Eisenkolb, Germering

Fast die Hälfte mehr Menschen als in den Vorjahren haben sich 2021 bisher bei der Caritas-Schuldnerberatung im Landkreis Hilfe gesucht. Nahmen in den vergangenen Jahren noch zwischen 630 und 660 Haushalte pro Jahr die kostenlosen Dienste der Beratungsstelle in Anspruch, waren es nun bereits 458 Ratsuchende, die ihre finanziellen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen konnten. Nicole Egle, Mitarbeiterin der Sozialberatung für Schuldner in Germering, führt den in einem solchen Ausmaß bisher unbekannten Zuwachs auf zwei Ursachen zurück. So sind im vergangenen Jahr wegen einer Reform des Verbraucherinsolvenzrechts fast alle Privatinsolvenzanträge und damit die entsprechenden Beratungen auf 2021 verschoben worden. Zudem ließen Einkommensverluste infolge von Corona die Zahl derjenigen sprunghaft ansteigen, die ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten und sich an die Caritas wandten.

Vor allem Menschen, die es vor der Pandemie gerade noch schafften, trotz angespannter Finanzlage über die Runden zu kommen, konnten Corona-bedingt oft von einem Tag auf den anderen ihre finanzielle Last nicht mehr tragen. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder der Verlust an Zuverdienst-Möglichkeiten durch Nebenjobs bescherten ihnen einfach zu hohe Einkommensverluste. Laut Egle leben diese Menschen vor allem wegen der exorbitant hohen Mieten und der geringen Chance, eine Sozialwohnung zu bekommen, in einem fragilen System. Dieses System kann schon bei kleinen Veränderungen zusammenbrechen.

In der Regel handelt es sich also nicht um Personen, denen wegen leichtfertig eingegangener Konsumentenkredite die Schulden über den Kopf wachsen. So führt die Caritas in ihrer aktuellen Landkreisstatistik als Hauptgrund für die Überschuldung ihrer Klienten Krankheit oder einen Unfall an (17,2 Prozent), gefolgt von sonstigen Gründen (12,4), was mit beinhaltet, dass Sozialleistungen oft zu lange nicht beantragt wurden, wodurch sich Schulden aufbauten. An dritter Stelle wird eine gescheiterte Selbstständigkeit (11,3) genannt, dann kommen Arbeitslosigkeit (11,2) und die Trennung oder Scheidung vom Partner (10,8). Zwar weist die Caritasstatistik nur für 1,1 Prozent das Konsumverhalten als Ursache der Misere aus, aber für Nicole Egle gehören zu diesem Punkt auch eine unzureichend finanzielle Allgemeinbildung sowie eine unwirtschaftliche Haushaltsführung. Bei Addition der drei Aspekte schnellt das Konsumverhalten auf 11,9 Prozent hoch.

Ein Viertel derjenigen, die 2020 bei der Schuldnerberatung Hilfe suchten, standen mit bis zu 5000 Euro in der Kreide. Die meisten hatten 10 000 bis 25 000 Euro Schulden, nur bei 5,2 Prozent lag die Höhe der Verpflichtungen bei mehr als 100 000 Euro. In Bayern stiegen die Privat- oder Verbraucherinsolvenzen im ersten Quartal 2021 um 69 Prozent an. Das liegt vor allem an einer Anpassung des Verbraucherinsolvenzrechts an europäisches Recht. Nach diesem musste die "Wohlverhaltensphase", nach der überschuldete Privatpersonen mit der Befreiung von ihren Restschulden rechnen können, von sechs auf drei Jahre verkürzt werden. Das ist auch für Betroffene im Landkreis ein starker Anreiz, enorme Anstrengungen auf sich zu nehmen und sich den Einschränkungen eines Insolvenzverfahrens zu unterwerfen.

"Es ist ein Vorteil für die gesamte Gesellschaft, dass es eine solche Chance auf Entschuldung gibt und sich die Betroffenen wieder etwas aufbauen können", beteuert Egle. Sie verweist darauf, dass es für Überschuldete nicht selbstverständlich ist, dass ihnen die Finanzmittel zum Bestreiten des Existenzminimums verbleiben. So sei es durchaus möglich, dass durch kumulierte Verrechnungsbeiträge für Miet- und Stromschulden und andere Dinge der Mindestbetrag unterschritten wird, der eigentlich jedem zum Leben zusteht. Ist das der Fall, werden die Betroffenen zu Bittstellern, weil das Geld für die Zuzahlung für Medikamente, Inkontinenzeinlagen oder die Fahrkarten für Bus und S-Bahn fehlt.

Derart in Bedrängnis Geratenen können in sozialen Belangen und Rechtsfragen geschulte Beraterinnen wie Egle helfen. Sie schaffen neue Perspektiven, wenn sie mit ihren Klienten Haushaltspläne erarbeiten und veranlassen, dass ein gesperrtes Konto freigegeben wird, zu hohe Tilgungsraten an die Zahlungsfähigkeit angepasst und Stundungen ausgehandelt werden. Auch wenn Schuldenberater viel Papierkram zu bewältigen haben und es sehr juristisch zugeht, bleiben sie Sozialarbeiter. Das bedeutet, dass sie nicht nur aufs Finanzielle schauen, sondern den jeweiligen Fall ganzheitlich angehen und ein Gespür für ihr Gegenüber entwickeln müssen, um zu verstehen, warum was falsch läuft. Unterlassen sie das, ist ihre Arbeit sinnlos. Falls erforderlich, kümmern sie sich auch darum, dass ihre Klienten ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung behalten und überflüssige Versicherungen gekündigt werden. So berichtet Egle von einer zahlungsunfähigen Frau, die insgesamt vier Sterbeversicherungen abgeschlossen hatte.

Für Nicole Egle soll die außergerichtliche Einigung mit Gläubigern die Regel bleiben und ein Insolvenzverfahren nur das letzte Mittel zur Bereinigung von Schulden sein. Dementsprechend niedrig war 2020 die Zahl von nur 34 Verbraucherinsolvenzberatungen der Caritas im Landkreis, von denen 30 zu einem gerichtlichen Insolvenzverfahren führten. Allerdings dürfte die Zahl der Insolvenzberatungen in diesem Jahr infolge der Reform stark steigen.

Der beste Schutz vor Überschuldung ist übrigens eine gute Ausbildung. So verfügten im vergangenen Jahr 49,2 Prozent der Klienten über einen Mittelschulabschluss, 14,4 Prozent hatten keinen. Die Realschule hatten 19,3 Prozent absolviert, ein Gymnasium 12,2 Prozent. Allerdings sind im Landkreis weit mehr Menschen überschuldet als nur diejenigen, die sich an die Caritas wenden. So lag die Überschuldungsquote von Privatpersonen 2020 bei 6,27 Prozent. Das heißt, fast jeder Sechzehnte konnte ohne Hoffnung auf Verbesserung seiner Lage über einen längeren Zeitraum seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.

© SZ vom 08.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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