Maisach:Zehn Tänze im Rollstuhl

Lesezeit: 3 min

Der SPD-Ortsverein Maisach-Gernlinden hat als Festrednerin seines Jahresempfangs Margit Quell (rechts) eingeladen. (Foto: Günther Reger)

Margit Quell berichtet beim SPD-Jahresempfang über ihr Leben als Behinderte

Von Karl-Wilhelm Götte, Maisach

Noch ist sie nicht auszumachen, die Begeisterung für den designierten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Beim Neujahrsempfang des bald hundertjährigen SPD-Ortsvereins Maisach-Gernlinden jedenfalls fiel der Name des neuen Hoffnungsträgers seiner Partei kein einziges Mal. Nur auf Nachfrage befanden einige Genossen, dass Schulz ein guter Kandidat sei. Doch zunächst lauschten die 50 Gäste im Pfarrheim St. Vitus den launigen Ausführungen von SPD-Kreisrätin Margit Quell zur Inklusion.

Margit Quell, 68, die mit zwölf Jahren an Kinderlähmung erkrankte und seitdem ihr Leben weitgehend im Rollstuhl verbringen muss, zeigte an ihrem eigenen Beispiel auf, wie sich die Gesellschaft zu einer behindertenfreundlicheren Gemeinschaft entwickelte. Als sie 1960 erkrankte, waren Begriffe wie Integration oder gar Inklusion im Zusammenhang mit Behinderung unbekannt. In der Mammendorfer Volksschule, in die sie nach langem Krankenhausaufenthalt noch ein Jahr ging, kam niemand auf den Gedanken, sie im Erdgeschoss zu unterrichten. "Damals musste mein Vater zweimal am Tag von seiner Arbeit aus der Molkerei kommen und mich die Treppe hoch und runter tragen", erzählte Quell. Sie wechselte auf die Landesschule für Körperbehinderte, machte dort ihren Realschulabschluss und wurde Bankkauffrau.

Quells große Leidenschaft war der Sport - Leichtathletik und Schwimmen. Sie gewann Goldmedaillen bei den Paralympics. Sie lobte ihr Trainingsbecken, das Hallenbad in Fürstenfeldbruck, das im ersten Stock liegt und zu ihrer Verwunderung bereits in den Siebzigerjahren einen Aufzug hatte. "Sonst ist man zu dieser Zeit als Behinderter nirgends reingekommen", sagte Quelle und erinnerte an den Zustand damaliger öffentlicher Gebäude.

Nach der Behindertenrechtskonvention der UN aus dem Jahre 2006 habe sich vieles geändert. Bürgermeister hätten damals sofort über die Kosten gejammert. "Ich habe den Bürgermeistern immer gesagt, dass das keine große Sache ist", so die Mammendorfer Ehrenbürgerin. Auch Olchings Bürgermeister Andreas Magg habe das schnell eingesehen und ihren Vorschlag, die Toilette auf dem Olchinger Volksfestplatz behindertengerecht auszubauen, umgesetzt.

"Ich mache das seit Jahrzehnten mit, jetzt bin ich zufrieden", zog Quell Bilanz. Sie lobte vor allem die Landkreisbusse, die für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer jetzt alle zugänglich seien. Auch für den Bereich Kultur und Sport fand sie lobende Worte und offenbarte, dass sie seit 1973 eine leidenschaftliche Rollstuhltänzerin ist: "Ich tanze zehn Tänze mit meiner Tochter." Quell merkte aber auch an, dass es da und dort noch Versäumnisse gebe und Behinderte immer noch ausgesperrt blieben. Sie erwähnte die Ladenzeile an der Münchner Straße in Fürstenfeldbruck, die unpassierbare Stufen am Eingang hätten. Im neuen Graf Rasso-Gymnasium hätte sie Mühe auf die Bühne zu kommen und bemängelte dort den langsamen Aufzug für Behinderte und die zu schmalen WC-Türen. "Das ärgert mich nach wie vor", machte Quell unter dem Beifall der Besucher ihren Unmut Luft. Sie hofft darauf, dass die Landesregierung ihr Versprechen, Bayern bis 2023 barrierefrei zu machen, einhält und auch Blinde und Gehörlose ausreichend fördert. "Die sind noch nicht in den Köpfen drin", so Quell. Sie machte sich noch dafür stark, dass geistig Behinderte nicht nur in speziellen Werkstätten "für ein Taschengeld arbeiten müssen", sondern ihnen auch "einfache Tätigkeiten in Betrieben" mit einem entsprechenden Lohn ermöglicht werden müsste. Wie die neu erwachte SPD da politisch eingreifen kann, sagte Quell nicht. Auch sie erwähnte Martin Schulz nicht.

"Schulz ist ein unverbrauchter Kandidat", ließ sich der Maisacher SPD-Vorsitzende Bernhard März entlocken. "Schulz ist das Beste, was uns passieren konnte", assistierte Normann Wenke, der zweite Vorsitzende der Maisacher SPD, etwas euphorischer. Ähnlich zuversichtlich gab sich SPD-Gemeinderat Ric Unteutsch und verwies auf die guten Umfragen: "Er ist eine echte Alternative zu Merkel."

Zurückhaltender äußerte sich Helga Rueskäfer. Die bald 80 Jahre Ehrenvorsitzende der Maisacher SPD will noch das Programm von Schulz abwarten, schätzt aber sein Engagement für Europa. "Die EU, die uns Frieden gebracht hat, ist in Gefahr, da kann Schulz gegensteuern." Was Europa und Deutschland gar nicht brauchen könne, hatte März zuvor auf den Punkt gebracht: "Die Hoffnung auf den starken Mann, der mit Dekreten regiert, bringt keinem Bedürftigen auch nur einen Euro."

© SZ vom 06.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: