Märchenerzählerin:Lebensweisheiten

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Märchenerzählen ist eine uralte Kunst. Susanne Coy gibt eine grandiose Kostprobe

Von Ekaterina Kel, Gröbenzell

Es war einmal...: Susanne Coy (vorne rechts), ausgebildete Märchenerzählerin, liest in Gröbenzell Senioren vor. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Merkwürdigerweise funktionieren manche Geschichten, egal wie fern sie der eignen Lebensrealität sind. Wie diese hier: Ein Königssohn wird geboren. Und die drei Moiren - Schicksalsgöttinnen aus der griechischen Mythologie - entscheiden: Der Junge soll dreimal neun Jahre leben. In seinem 27. Lebensjahr heiratet er eine Prinzessin. Die frisch Vermählten segeln gerade übers Meer, da schlägt für den Königssohn die Stunde des Todes. Eine Welle reißt ihn hinunter zum Meeresgrund und seine junge Frau fängt an zu weinen, so bitter und traurig, dass die Moiren Mitleid bekommen. Sie binden den Lebensfaden des Königssohns an den seiner Prinzessin. Künftig leben die beiden vergnügt zusammen und sterben am selben Tag. "Wann, das vermag ich nicht zu sagen", sagt Susanne Coy. Mit diesen Worten beendet die Märchenerzählerin aus Gröbenzell das griechische Märchen, das sie einer wahrhaft gebannten Gruppe älterer Frauen und Männer in der Gemeindebücherei in Gröbenzell erzählt.

Die Bücherei hatte am Mittwochabend zu einer Märchenstunde für ältere Erwachsene eingeladen. Im Zentrum steht die 72-Jährige Coy, eine ausgebildete Märchenerzählerin, Mitglied der Erzählergilde der Europäischen Märchengesellschaft, leidenschaftliche Geschichtensammlerin, grau melierte Haare, rote Kette, leises Lächeln. Anlass für die Veranstaltung ist der "Tag der älteren Generation", später wird Coy jedoch sagen, dass ihr Labels wie diese nicht wichtig sind. Die Geschichten, die sie erzählt, seien für Kinder von vier Jahren bis ins hohe Alter geeignet. Das einzige, was man können muss, ist Zuhören.

Üblicherweise geht es los mit "Es war einmal...". Susanne Coys erste Worte an diesem Abend muten realistischer an, aber auch mit einer gewissen Würze, die besonders scharfsinnigen Menschen eigen ist. Sie sagt: "Entweder geht es los mit einem König oder mit einer armen Familie", und zwinkert dabei, aber kaum merklich. Und so wie ihr Zwinkern ist auch Coys Erzählstil: diskret, zart und trotzdem bestimmt. In der Gemeindebibliothek baut sie mit ihrer ruhigen Stimme eine Atmosphäre auf, von der viele Lehrer, Professoren oder Eltern nur träumen können.

Die etwas mehr als 20 Gäste hängen an Coys Lippen, genießen jedes geäußerte Wort, verschlingen die Botschaften, die in den Märchen versteckt sind, leiden mit, lachen vergnügt. "Es macht mir unheimliche Freude, zu sehen, wie die Leute mitgehen", sagt Coy im Anschluss. Auch der mürrischste Mann bekomme bei ihr zuweilen Kinderaugen, erzählt sie nicht ohne Stolz. Was Coy bietet, sind Geschichten. Ihre besondere Kraft liegt allerdings nicht in der Story selbst, sondern in dem, was jeder einzelne, der zuhört, daraus zieht. Es können auch nur Bilder sein, wie das von den drei Moiren, die sich beratend über das Bett des Königssohns beugen. Oder eins aus einem serbischen Märchen, von dem Fröschlein, das sich in das schönste Mädchen aller Zeiten verwandelt und dem König eine goldgelbe Weizenähre mitbringt. Oder von der marokkanischen Version von Sonne und Mond, die als zwei eifersüchtige Liebhaber am Himmel erscheinen.

Coys Märchen sind nicht die üblichen Grimms oder Andersens. Die gelernte Buchhändlerin sucht in großen Sammelbänden nach alten Volksmärchen aus allen Ländern dieser Welt und wählt nach Gusto aus. Dann lernt sie die Geschichten auswendig, oder, wie sie selbst sagt, "inwendig", also nach Bildern, und erzählt sie auch entlang dieser. Gelernt hat sie das bei der Märchengesellschaft, wo sie mit 55 Jahren eine Ausbildung anfing. Mal mimt sie verschiedene Charaktere nach, mal reißt sie die Augen ganz weit auf und holt tief Luft, mal wischt sie mit der Hand einen Bösewicht weg.

"Das Schöne ist, dass es immer gut ausgeht", sagt eine Zuhörerin. Märchen seien eine Fundgrube an Lebensweisheiten, findet sie, das Alter der Zuhörer spiele da keine Rolle. So richtet sich ein Abend in der Grafrather Michaelkirche am 14. April an Erwachsene, Jugendliche und Kinder ab zehn Jahren. Märchen sind aus einem Stoff gemacht, der allen Generationen steht. In der Bibliothek will man den Fokus künftig trotzdem vorrangig auf Ältere richten. Die Märchenstunde diente der Bibliothek als Auftakt eines Erzählcafés für Senioren. Der nächste Abend findet am Dienstag, 8. Mai, von 17 Uhr an in der Gemeindebücherei statt.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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