Klassik:Musikalischer Wahnsinn

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Verrücktheit: Den Begriff "Folia" thematisiert das Bremer Barockorchester im Veranstaltungsforum. (Foto: Matthias F. Döring)

Fulminantes Konzert des Bremer Barockorchesters

Von Klaus Mohr, Fürstenfeldbruck

Wie fühlt es sich an, wenn man wahnsinnig ist? Jeder Mensch hat da eine Vorstellung, verbunden mit der Hoffnung, dass einem das erspart bleiben möge. Trotzdem kennen viele das Gefühl, kurzfristig mal den "Boden unter den Füßen" zu verlieren. In der Musik spielt das Thema Wahnsinn eine überproportional große Rolle, was darauf schließen lässt, dass sich so ein Gemütszustand mit den Mitteln der Musik besonders gut illustrieren lässt, und das nicht nur mit Sängern auf der großen Opernbühne. Am Sonntag gastierte das Bremer Barockorchester in der Reihe "Alte Musik in Fürstenfeld" im Kurfürstensaal mit einem Programm unter dem Titel "Viva la Folia". In verschiedenen Sprachen meint dieser Begriff "Folia" so etwas wie Verrücktheit oder Wahnsinn. Musikalisch handelt es sich um ein gleich bleibendes Harmoniemodell, das von einer unüberschaubaren Zahl an Komponisten als Thema für Variationen verwendet wurde. Das Bremer Kammerorchester besteht aus vier Barockviolinen, einer Barockviola, einem Barockcello, einem Kontrabass, Cembalo, Fagott und Laute. Künstlerischer Leiter ist der Cellist Néstor Fabián Cortés Garzón.

Die Musik begann nicht erst, als die Musiker auf die Bühne gingen. Schon beim Hereinkommen erklang, quasi als Entrée und von einer Geige gespielt, das Folia-Thema, das dann vom Cembalo harmonisch unterfüttert wurde. Der Übergang in das erste Werk des Abends, das Concerto "La Pazzia" (auch dies ein Begriff für Wahnsinn) von Francesco Durante, erfolgte nahtlos. Im ersten Satz, mit Allegro/Affettuoso überschrieben, kam nicht zuerst der Allegro-Teil, auf den das Affettuoso folgte. Vielmehr waren damit zwei Gemütszustände, in der Sprache des Barock "Affekte", beschrieben, die sich mehrmals ziemlich unvermittelt abwechselten. Während der erste Affekt von kraftvollem Zugriff, brillantem Klang und großer Vitalität gekennzeichnet war, ergab sich im zweiten ein klangvoll-beseeltes Legato, bei dem fast kein Vibrato zum Einsatz kam.

Mit Swantje Tams Freier gestellte sich im Stück "Pazzia venuta da Napoli" von Pietro Antonio Giramo eine Sopranistin zum Orchester. Die Geschichte, dass eine unglücklich verliebte Dame den Verstand verliert, bekam dadurch nicht nur Affekte, sondern auch Worte. Die Sopranistin durchlebte sängerisch, darstellerisch und vor allem mimisch-gestisch alle Phasen ihrer Liebe und ließ das Publikum damit an ihren emotional überschwänglichen Hochphasen ebenso wie an ihren existenziellen Tiefpunkten hautnah teilhaben. Die Übersetzung der italienischen Texte wurde dabei synchron an die Wand projiziert. Das Orchester unterstützte den jeweiligen Ausdruck, schleuderte lustvolle Raketen der Lebensfreude auf die Bühne oder bot ein weiches musikalisches Ruhekissen in den Phasen der Ernüchterung und der Trauer. Bei allen Allegro-Teilen dieses Konzerts hatte man den Eindruck, dass das Bremer Barockorchester den Kurfürstensaal "rockte". Der Groove, den die Barockmusik hier ausstrahlte, war so stark, dass die Zuhörer ganz unmittelbar mitgerissen wurden. Vor diesem Hintergrund hätte es statt "Barockorchester" eigentlich "Barockband" heißen müssen.

Als Abschluss war, gleichsam als Potpourri, eine Zusammenstellung von Variationen über "La Folia" zu hören. Die immer gleiche Harmoniefolge hatte dabei nicht nur etwas Beruhigendes, sondern konnte auch als Hamsterrad verstanden werden, aus dem es kein Entrinnen gibt. Dabei ließ sich dann auch ein Wahnsinn assoziieren. Am Ende gab es eine zündende Zugabe aus Bolivien, bei der die Improvisation im Vordergrund stand.

© SZ vom 19.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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