Nationalsozialismus:Wenn die schwarzen Tücher fallen

Lesezeit: 4 min

Zu Beginn ihrer Performance liegen die Schüler auf dem Boden des Saals im NS-Dokuzentrum. (Foto: Connolly Weber Photography/oh)

Die neunten Klassen der Kerschensteiner Mittelschule führen zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung eine Performance auf. Ihre Bühne ist im NS-Dokuzentrum.

Von Konstantin Hadzi-Vukovic, Germering

"Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man Menschen", liest ein Schüler der Kerschensteiner Mittelschule vor. Das berühmte Zitat von Heinrich Heine dient den Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse als zentraler Satz ihrer Performance "Verboten, Verfolgt, Erinnert" im Saal des NS-Dokumentationszentrums in München. Dort führen 21 Schülerinnen und Schüler aus Germering eine Performance zum 90. Jahrestag der nationalsozialistischen Bücherverbrennung.

"Es gab viele Schulen, die sich für das Projekt beworben haben", sagt Manuela Recke, Lehrerin der Klasse 9 m. Sie sei sehr glücklich, dass die Kerschensteiner Mittelschule angenommen wurde. Das Projekt sei ein Angebot des NS-Dokumentationszentrums und der Internationalen Jugendbibliothek, erklärt Bildungsarbeiterin Kerstin Baur, die das Thema innerhalb von fünf Tagen mit den Schülern ausgearbeitet hat. An der Vorbereitung wirkte auch Theaterpädagogin Lena Scholle mit. "Fünf Tage konnten die Kinder statt Schule Theater machen", sagt Recke. Es sei schon anstrengend gewesen, sagt die 15-jährige Sarah. "Wir hatten die Chance, unsere Gefühle rauszulassen." Das sei ein schwieriger Prozess gewesen. Allerdings habe das Projekt sie als Klasse gestärkt, sagt sie. "Ein bisschen war das alles, wie eine Therapiestunde." Für das Projekt losten die Lehrer aus den beiden neunten Klassen die Schüler aus, sagt Yusuf Kaya, einer der Schüler, die an der Performance teilnehmen.

Schwarze Tücher symbolisieren die verbrannten Bücher. (Foto: Connolly Weber Photography/oh)

Zu Beginn der Performance liegen die 21 Schüler auf dem Boden. Alle mit einem Buch in der Hand. Sie lesen. Die Mitschüler aus den anderen Klassen warten aufgeregt darauf, dass etwas passiert. Es wird getuschelt. Jedes Buch steht für eine Lebensgeschichte einer vor den Nationalsozialisten geflüchteten Person. Ruhige Musik ertönt, und ein Schüler aus dem Kreis steht auf und beginnt zu sprechen. Er liest die Lebensgeschichte der österreichisch-jüdischen Schriftstellerin Anna Maria Jokl vor. 1933 musste sie vor den Nazis ins Exil fliehen, wo eines ihrer bekanntesten Bücher "Die Perlmutter" entstand. Dann steht eine andere Schülerin auf. Sie liest über das Leben Erich Kästners vor. Vor 90 Jahren verbrannten die Nazis seine Bücher. Dann geht es um Else Ury. Die jüdische Autorin wurde mit 65 Jahren in Auschwitz ermordet. Grete Weiskopf, deren erstes Buch auch 1933 verbrannt wurde, wird als nächstes gedacht.

Auf einmal wird es sehr emotional

Die Mitschüler folgen gespannt dem Spektakel. Die Performance begibt sich dann auf die Bühne. Es folgt der Hauptakt. Die Schüler wedeln mit schwarzen Tüchern, die die verbrannten Bücher repräsentieren. Die Musik wird dramatisch und gefährlich, die Tücher fliegen auf den Boden, fast alle Schüler verlassen die Bühne. Die Musik wird ruhiger, nur noch zwei Schülerinnen stehen auf der Bühne. Die eine tanzt, während die andere das Wort ergreift: "Meine Bücher, was ist passiert? Sie haben mein Licht gelöscht. Sie haben meine Bücher getötet." Man hört, wie einem Schüler im Publikum ein "Wow" entgleitet. Das Publikum ist ganz offensichtlich beeindruckt.

Was nun folgt, wird sehr emotional. Die Schüler setzen sich mit eigenen Diskriminierungserfahrungen auseinander. Jeder hat seine eigenen Erlebnisse aufgeschrieben und liest vor. "Ich wurde ausgegrenzt, weil ich anders bin", liest ein Schüler vor. "Ich wurde ausgegrenzt, weil ich Ausländer bin", sagt ein anderer. Eine Schülerin bricht in Tränen aus, während sie über ihre Erfahrungen spricht: "Ich hatte keine Freunde und war allein." Sogar suizidale Gedanken habe sie gehabt. Eine weitere Schülerin sagt: "Im Irak war ich zu deutsch und in Deutschland zu fremd. Wohin gehöre ich?"

Am Ende ihres Disputs über Meinungsfreiheit geben sich die Schüler die Hand. (Foto: Connolly Weber Photography/oh)

Die Erfahrungen münden in einem klaren Appell. Man müsse Nein zu Ausgrenzung und Diskriminierung sagen. "Ich will nie wieder hören, dass jemand als schwul beleidigt wird", sagt ein Schüler auf der Bühne. Schließlich wird eine kleine Diskussion zwischen zwei Schülern zum Thema "Meinungsfreiheit" gespielt. "Sollen wir nicht die Meinungsfreiheit eingrenzen, wie in China oder Nordkorea?", fragt einer. Gebe es dann nicht weniger Fake News? Natürlich sei es wichtig, die Meinungsfreiheit auf einigen Gebieten einzuschränken, antwortet der 15-jährige Yusuf. Im Bereich der Wissenschaft zum Beispiel sei es wichtig, auf fundierte Meinungen von ausgebildeten Wissenschaftlern zu hören. Aber allgemein dürfe man die Meinungsfreiheit nicht einschränken. "Wir haben gesehen, was passiert ist, als die Nazis das machten". Jeder dürfe seine eigene Meinung haben, sagt er. So endet die Performance. Die beiden geben sich die Hand.

Das Publikum bricht in großen Applaus aus. Eine Lehrerin wischt sich Tränen aus den Augen. Es sei fantastisch, was ihre Schüler auf die Beine gebracht hätten, sagt Klassenlehrerin Recke. "Die Schüler haben uns in ihr Leben reingenommen", sagt Baur. Es seien großartige junge Leute.

Gräfelfing
:Platz für einen Schatz

Ein halbes Leben lang hat Georg Salzmann für seine "Bibliothek der verbrannten Bücher" gesammelt. Der größte Teil dieses wertvollen Erbes ist nun in Augsburg zu Hause - und ein Teil in Himmelpfort

Von Annette Jäger

"Zuerst haben wir allgemein über Diskriminierung geredet und das mit der Zeit im Dritten Reich verglichen", sagt Yusuf. Danach fingen sie an, sich mit den einzelnen Autorinnen und Autoren auseinanderzusetzen. "Jeder konnte seine Ideen einbringen", fügt eine Schülerin hinzu. Sie haben sehr viel Neues gelernt. "Es ist wichtig, darüber zu sprechen. Meinungsfreiheit wie in Deutschland gibt es nicht überall", sagt Sarah. "Mensch ist Mensch", sagt sie. Es sei wichtig zu tolerieren, wie jemand anderes lebe.

"Wenn ich sehe, dass jemand ausgegrenzt wird, dann versuche ich hinzugehen", sagt Jason Gonzales, Schüler einer achten Klasse. Es habe schon manchmal Mobbing oder Ausgrenzung in der Schule gegeben, sagt Meysam Yadyavi. Aber er denke, dass das eher Vergangenheit sei. "Jetzt ist es besser geworden."

"Die Schüler konnten so viel mit dem Thema anfangen, auch auf emotionaler Ebene", sagt Baur. Diese Generation interessiere sich sehr für das Thema. Jeder sei über sich selbst hinausgewachsen, sagt sie. "Yusuf, zum Beispiel, wollte gar nicht auf die Bühne", sagt Recke. Er sei sich unsicher gewesen, habe es aber letztendlich doch gemacht. Seine Eltern sind mit zur Performance gekommen. Sie sind unglaublich stolz auf ihn.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMit Ende 40 ins Kloster
:Aus Dieter wird Antonius

Dieter Pimiskern war in seinem Leben schon so einiges: Punk, Sozialarbeiter, Tontechniker und CSU-Politiker. Nun wagt er die wohl radikalste Veränderung.

Von Ingrid Hügenell

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: