Integrativer Verein in Puchheim:Gemeinsam zurück in den Alltag

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Das Projekt "Pack mas" unterstützt Menschen, die arbeitslos sind und Schicksalsschläge verarbeiten müssen. Sie lernen, ihr Leben zu strukturieren, sich selbst zu akzeptieren und wieder Ziele und Träume zu haben

Von Franziska Schmitt, Puchheim

Christine Yalcinkaja wirkt in sich gekehrt. Sie sitzt mit den anderen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Projekts "Pack mas" an einer langen Tafel aus zusammengeschoben Tischen. Sie redet wenig, schaut aber immer wieder von ihrem Teller auf. Die Atmosphäre ist so vertrauensvoll, dass sie den vorgeschriebenen Mindestabstand vergessen macht, den natürlich alle einhalten. Dinge, die an anderen Orten ein soziales Ausschlusskriterium sein können - Stottern, gebrochenes Deutsch, kulturelle Unterschiede, eine schicksalhafte Lebensgeschichte - werden hier zum verbindenden Element. Yalcinkaja fühlt sich offenbar wohl. Nachdem sie den Vormittag damit verbracht hat, einzukaufen und mit den anderen zu kochen, hat sie sich dazu entschieden, noch zum Mittagessen in der Puchheimer Zentrale von "Pack mas" zu bleiben.

Die Puchheimer Zweigstelle des Vereins bietet benachteiligten Menschen Arbeitsgelegenheiten an, in Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Fürstenfeldbruck. Die integrativen Maßnahmen stützen sich auch auf die Kooperation mit anderen Vereinen, wie dem Vogelpark Olching, Schulen und Unternehmen. Sie sind zunächst für sechs Monate angedacht, können jedoch in Absprache mit dem Jobcenter verlängert werden. Seit gut einem Jahr nimmt Christine Yalcinkaja an einer Arbeitsgelegenheit im Bereich Hauswirtschaft teil und arbeitet gemeinsam mit neun weiteren Teilnehmern immer Werktags von neun bis 13 Uhr in der Puchheimer Zentrale.

Die 56-Jährige bezieht seit sieben Jahren Hartz IV. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihr Nachname ist das Überbleibsel aus einer Ehe. Nach der Scheidung habe sie ohne abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz gesehen, erzählt sie. Zuvor habe sie sich auf Wunsch ihres Mannes auf die Erziehung der beiden gemeinsamen Kinder und den Haushalt konzentriert. Kleinere Jobs, die ihr nach der Scheidung perspektivisch einen Einstieg in die Arbeitswelt ermöglicht hätten, musste sie aus gesundheitlichen Gründen beenden. Dabei bedauere sie vor allem, dass sie die Arbeit als Putzkraft in einem Privathaushalt aufgegeben musste. Die Menschen dort seien sehr freundlich zu ihr gewesen, sagt sie. Doch am Ende habe sie vor den andauernden Schmerzen in den Unterarmen, die sie schon beim Auswringen eines Lappens verspürt hat, kapitulieren müssen.

Christine Yalcinkaja ist eine der Teilnehmerinnen des Projekts "Pack mas" in Puchheim. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Dass ihre Mitmenschen nett zu ihr sind und auf sie achten, war für sie lange Zeit nicht selbstverständlich. Nicht während der Schulzeit, nicht während des Versuchs, eine Ausbildung zu machen und auch nicht auf der Arbeit. Als sie in einem Gastronomiebetrieb arbeitete, habe ihr Chef sie immer wieder angeschrien und sie vor den anderen Mitarbeitern erniedrigt. Der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses war letztlich aber eine Operation an den Unterarmen, mit einer mehrmonatigen Genesungszeit. Dass sie auch froh sein konnte, aus einem psychisch belastenden Arbeitsverhältnis entflohen zu sein, habe sie damals nicht gesehen. Zunächst einmal sei sie frustriert gewesen, sagt sie. Besonders gegenüber Fremden habe sie sich geschämt, arbeitslos zu sein. Bei "Pack mas" trifft sie nun auf Menschen, die zwar verschiedene Lebensgeschichten haben, deren Gemeinsamkeit aber die Arbeitslosigkeit ist.

Mit einem Glas Wasser sitzt Yalcinkaja mit den anderen am Tisch. Sie sieht unauffällig aus, trägt ihre rötlich gefärbten Haare kurz, eine Brille mit leicht eingefärbten Gläser hängt an einer Schnur um ihren Hals. Wenn sie sitzt, berührt ihr langer, schwarzer Cardigan fast den Boden. Die meisten ihrer Kollegen sind Frauen, viele haben einen Migrationshintergrund. So wird die Morgenbesprechung auch für eine kleine Deutschübung genutzt. Jeder zieht eine Karte, auf der ein Spruch steht, und liest laut vor. Mit ausladenden Gesten und einfachen Wochen erklärt Elke Zimdars, die Anleiterin im Bereich Hauswirtschaft, was der Satz bedeutet. Danach werden die anstehenden Aufgaben besprochen. Neben den hauswirtschaftlichen Handgriffen unterstützen sich die Teilnehmer gegenseitig bei ihren persönlichen Herausforderungen. Manche lernen gemeinsam Deutsch, andere bekommen Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen und beim Ausfüllen von Formularen. Besonders für Teilnehmer mit Migrationshintergrund stellen mangelnde Sprachkenntnisse und die formalen Abläufe der Arbeitswelt ein großes Hindernis dar, sagt Zimdars. "Manche haben noch nie einen Stundenzettel ausgefüllt. Sie wissen nicht, wo sie unterschreiben müssen." Das Ausfüllen von Stundenzetteln bis hin zu der Bedienung einer Waschmaschine lernen sie innerhalb der Arbeitsgelegenheit.

Während diskutiert wird, was es zu essen geben soll, schreibt Melanie Gradel eifrig mit. Sie sticht nicht nur durch ihre bunt gefärbten Haare und ihre Piercings im Gesicht aus der Runde hervor, sondern auch durch ihr junges Alter. Der berufliche Einstieg ist der 25-Jährigen noch nicht gelungen. Eigentlich wollte sie, nachdem sie ihren Schulabschluss nachgeholt hatte, gleich durchstarten, ein Praktikum machen und anschließend eine Ausbildung beginnen, sagt sie und setzt zu einer Begründung an: "Ich habe mir wohl zu viel zu auf einmal zugemutet". Sie wirkt nachdenklich. Später habe sie sich vom Jobcenter ausgebremst gefühlt und viele Praktika nicht machen können, erzählt sie weiter. Auf Dauer habe die Arbeitslosigkeit dazu geführt, dass ihr Alltag mehr und mehr an Struktur verlor. Durch die Teilnahme am Projekt Hauswirtschaft hat sie nun die Möglichkeit, mit Unterstützung ihren Alltag wieder zu strukturieren. Sie ist begeistert von dem "offenen und familiären Umgang", wie sie sagt.

Melanie Gradel hat ihren Schulabschluss nachgeholt, ein Job fehlt ihr noch. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Gradel legt den Stift zur Seite. Sie hat alles aufgeschrieben, was sie für das Mittagsessen - Lasagne, Salat und Mangocreme zum Nachtisch - brauchen. Yalcinkaja wird von Zimdars gebeten, mit Parwin Nabi einkaufen zu gehen. Die Einkaufsliste ist lang; Yalcinkaja hat nicht nur Deutsch als Muttersprache, sondern ist auch mit dem Sortiment deutscher Supermärkte vertraut. Sie achte darauf, dass die Schwächen und Stärken der Teilnehmer sich ergänzen und sie so voneinander lernen, erklärt Zimdars. Während Gradel und die anderen Teilnehmer in die Küche gehen um aufzuräumen, machen sich Yalcinkaja und Nabi auf den Weg zum Supermarkt.

Während Yalcinkaja den Überblick über die Einkäufe behält, packt Nabi ein. Die beiden Frauen sind bereits ein eingespieltes Team. Die Vertrautheit zwischen ihnen begründet Yalcinkaja auch durch eine ähnliche Erfahrung. "Wir waren beide mal eingesperrt." Sie selbst im Keller bei sich zu Hause, Nabi auf ihrer Flucht im Lastwagen. Außerdem fühle sie sich in den nahöstlichen Kulturen oft wohler. "Die Menschen sind offener und herzlicher", sagt die 56-Jährige. Dabei weiß sie aus ihrer Ehe, um die Schwierigkeiten, die kulturelle Unterschiede mit sich bringen können. Rückblickend sagt sie: "Ich habe immer gedacht, mich will niemand." Deshalb habe sie sich ohne groß zu zögern auf die Beziehung zu ihrem Ex-Mann eingelassen. Erst als sie bereits schwanger gewesen ist, habe sie erfahren, dass er ohne Aufenthaltsgenehmigung aus der Türkei nach Deutschland gekommen war.

Vorurteile gegen Ausländer habe sie deswegen nicht, ganz im Gegenteil. An anderen Tagen liest sie mit Nabi deutsche Kinderbücher oder sie machen gemeinsam Yoga. Auch letzteres hat Yalcinkaja bei der Arbeitsgelegenheit für sich entdeckt, denn als sie vor einem Jahr zu "Pack mas" kam, wurde sie regelmäßig von Panikattacken heimgesucht. Heute sagt sie: "Ich bin stark geworden. Ich weine nicht mehr so viel." Die einfachen Yogaübungen, die ihr Zimdars gezeigt hat, haben ihr geholfen. Mittlerweile praktiziere sie es auch zuhause, erzählt sie. "Einen Yogakurs kann ich mir nicht leisten, dafür gibt es aber ein großes Angebot an kostenlosen Yoga-Videos im Internet."

Bei "Pack mas" wird nicht nur gemeinsam eingekauft und gekocht, jeder bekommt auch sonst die Hilfe, die er oder sie benötigt. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Es geht bei "Pack mas" also nicht alleine darum, Arbeitsabläufe zu erlernen, sondern auch um die Förderung der persönlichen Entwicklung der Teilnehmer. "Pausen machen oder zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind, müssen viele von ihnen erst lernen", sagt Zimdars. "Aufgrund schlechter Erfahrungen haben viele Angst, etwas falsch zu machen und dafür bestraft zu werden." Bei der Bewältigung der Aufgaben gehe es auch darum, wieder auf sich zu achten und traumatische Erfahrungen bei der Flucht nach Deutschland und während des Integrationsprozesses zu überwinden. Dass am Ende ein Essen auf dem Tisch steht, sei gar nicht das Entscheidende, sagt Zimdars und stellt zugleich schmunzelnd fest, dass sie irgendwas dann doch immer hinkriegen.

Und auch heute sieht es ganz gut aus. Vom Herd ist ein Zischen zu hören, als Yalcinkaja nach ihrer Pause und einer kleinen Yogaeinheit die Küche betritt. Das Gemüse ist schon größtenteils geschnitten und wird für die Lasagne angebraten. Sie holt ihr eigenes Messer aus dem Schrank und beginnt die Gurke für den Salat zu scheinen. "Die Schneide ist stumpf", sagt sie und erklärt, dass Messer etwas sind, vor dem sie seit einem Unfall in ihrer Schulzeit Angst habe. Noch bevor sie weiterredet, verhärten sich ihre Gesichtszüge. "Sie haben mich fette Sau genannt", sagt sie und erzählt, dass ihre Mitschülern sie immer und immer gemobbt haben. Im letzten Jahr hat sie abgenommen. Sie ernähre sich ausschließlich vegetarisch und vermeide Kohlenhydrate, wenn sie für sich allein koche, erklärt sie, während sie weiter schneidet. Ihr Übergewicht sei zwar weg, aber die Erinnerungen nicht und auch nicht die persönlichen Unsicherheiten, die sie aus ihrer Vergangenheit mitgenommen hat.

Um Yalcinkaja herum wird es in der Küche wuselig. "Die Lasagne muss in den Ofen", sagt Elke Zimdars. Die 25-jährige Gradel löst einen anderen Teilnehmer am Herd ab. Immer wieder fällt auf, dass sie von anderen Teilnehmern um Unterstützung gebeten wird. Sie geht mühelos auf die anderen ein, gibt Ratschläge zum Gemüseschneiden und versprüht dabei gute Laune. Sie habe die anderen schon das ein oder andere Mal angeleitet, wenn Zimdars krank oder im Urlaub war, erzählt sie. "Auch mal Chef sein", das sei sofort ihr Wunsch gewesen, als sie in die Arbeitsgelegenheit gekommen ist. Ob sie nach sechs Monaten bereit für eine Ausbildung ist, weiß sie noch nicht. Ihre Ziele möchte sie auf jeden Fall weiterverfolgen. "Am liebsten möchte ich einer forensischen Tätigkeit nachgehen. Dafür habe ich mich schon als Kind interessiert", sagt sie. Alternativ interessiere sie sich für den Bereich des visuellen Marketings.

Zum Programm gehört auch gemeinsames Yoga. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Und damit ist für Ralf Rajendra, einen der pädagogischen Mitarbeiter, auch schon einiges für ihre Zukunft gewonnen. Eigene Ziele zu entwickeln sei für die Teilnehmer besonders wichtig und stelle eine große Motivation dar, erklärt er. Nach der Teilnahme an einer Arbeitsgelegenheit folge selten direkt der Einstieg in die Berufswelt. Dafür seien zumeist weitere Maßnahmen notwendig. "Wichtig ist, dass die Menschen aktiviert sind", sagt er und meint damit, dass die Teilnehmer wieder eine Perspektive für sich sehen. Bei den monatlichen Teilnehmergesprächen schaue er auf die erzielten Fortschritte. "Ich versuche zu schauen, ob der Teilnehmer arbeitsfähig ist, ob er ein berufliches Ziel hat und wenn ja, was dem noch im Wege steht", sagt er. Manchmal sei es ein Deutschkurs, manchmal sei auch eine therapeutische Anbindung notwendig, um dem Ziel ein stückweit näher zu kommen.

Yalcinkaja weiß noch nicht, wie es nach der Arbeitsgelegenheit für sie weitergeht. "Am liebsten würde ich für eine Familie kochen", sagt sie. Doch bis sie sich entscheiden muss, hat sie noch Zeit. Die Maßnahme ist ihr für ein weiteres Jahr vom Jobcenter bewilligt worden. Zeit, die sie aufgrund ihrer Vergangenheit braucht. Seit Kurzem nimmt sie die therapeutische Anbindung von "Pack mas" in Anspruch. Zum anderen bedeutet das für sie aber auch, dass sie noch ein weiteres Jahr sagen muss: "Ich habe keine Arbeit". Etwas, was ihr lange Zeit schwer über Lippen gekommen ist. Heute sagt sie dazu: "Dafür darf man niemanden verurteilen. Jeder kann von heute auf morgen da reinrutschen. Jeder hat seine Geschichte."

© SZ vom 10.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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