Hörbach:Von der dicken Blutspur des Kapitalismus

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Blick von außen: Kai Degenhardt erzählt aus der Perspektive derer, die die Geschichte im Regelfall nur erleiden, statt sie zu gestalten. (Foto: Carmen Voxbrunner)

In Hörbach zeigt der Liedermacher Kai Degenhardt, dass der Protestsong nichts von seiner Aktualität verloren hat. Dabei geht es ihm nicht um die Tagespolitik, sondern ums große Ganze

Von Peter Bierl, Hörbach

Der Abend mit Kai Degenhardt wirkt wie aus der Zeit gefallen. Es klingt nach Protestsongscheiß an Schweinsbraten und Cappuccino-Parfait, wenn der Liedermacher in den Überleitungen zwischen den Stücken von Kapitalismus und Klassenkampf spricht. Vermutlich wurde die Räterepublik in München gerade niederkartätscht, als jemand zuletzt solche Gedanken im Wirtshaus von Hörbach äußerte. Und das Bekenntnis von Toni Drexler, dem Organisator des Montagsbrettls, er sei mit solchen Stücken musikalisch sozialisiert worden, hätte wohl die Hälfte des Publikums mit ihm ablegen können.

Aber der oberflächliche Eindruck trügt. Nichts ist aus der Zeit gefallen, das Programm mit dem Titel "Lieder gegen den rechten Aufmarsch" ist von Anfang an beklemmend aktuell, etwa der Titel "Wir gehen rein", der von den Einsätzen der Vaterlandsverteidiger zwischen Hindukusch und Mali handelt. Bei den Klassikern von den "Wölfen mitten im Mai" oder über den Fremden mit dem Hinkefuß, die sein Vater Franz-Josef Degenhardt schrieb als die NPD in den Sechzigerjahren in sieben westdeutsche Landtage einzog, vergeht einem der Durst nach Bier aus der Maisacher Brauerei, das sie in Hörbach ausschenken. Das Lied von Tonio Schiavo, dem Bauarbeiter aus dem Mezzogiorno, der mit zwölf Kollegen unterm Dachstuhl haust, erscheint wie auf heutige Arbeitsmigranten im reichen Deutschland gemünzt.

Jahrzehntelang hat Kai mit seinem Vater zusammengearbeitet, als Arrangeur und Gitarrist, er hat an sämtlichen Alben und vielen Tourneen mitgewirkt. 1997 begann der Sohn seine eigene Karriere, hat mittlerweile fünf Alben veröffentlicht. Das bislang letzte Werk von 2012 nahm die Vereinigung Preis der deutschen Schallplattenkritik als eine der künstlerisch herausragenden Neuveröffentlichungen in die Bestenliste auf. Trotz der engen Kooperation hat er seinen eigenen Stil entwickelt, ruhiger, sanfter, mit mehr Elementen des amerikanischen Folk und Blues.

Bei den Überleitungen verhaspelt sich Kai Degenhardt mitunter, setzt neu an, wiederholt sich. Vielleicht ist es Lampenfieber, vielleicht die Schwierigkeit, immer den Bogen hinzukriegen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie er es auf der Bühne versucht, zwischen den Liedern von Franz-Josef Degenhardt und den eigenen. An der Weltlage kann es nicht liegen, die Parallelen sind offensichtlich, vieles hat sich verändert, aber das Wesentliche ist geblieben. Auf einem Planeten des Überflusses leben vernunftbegabte Wesen in einer Gesellschaftsform zusammen, die auf Konkurrenz statt Kooperation basiert, so dass eine dicke Blutspur bleibt.

Verschwunden ist allerdings jener schon seinerzeit völlig unberechtigte Optimismus, mit dem der alte Degenhardt das Loblied der Barrikaden sang. Seitdem gab es eine Serie von historischen und selbst verschuldeten Niederlagen, die sämtliche Fraktionen der Linken trafen, vom Rückzug ins Private, den Marsch in die Institutionen und die Karriereleiter hinan, bis zum Zusammenbruch autoritärer Regime mit emanzipatorischem Anspruch. Auch die analytische Klarheit ging dabei verloren. Wenn Linke heute von Globalisierung statt von Weltmarktkonkurrenz sprechen, markiert das schon begrifflich den Abstieg in Obskurantismus und Beliebigkeit. Ein Neuanfang ist nötig und ein Stottern mitunter durchaus angemessen.

Dabei arbeitet sich Kai Degenhardt wie schon der Vater nicht an der Tagespolitik ab, sondern versucht in seinen Texten das Wesen der Erscheinungen zu erfassen und zwar aus der Perspektive derer, die Geschichte im Regelfall erleiden. Er scheut auch keine Zwischentöne als Krampf im Klassenkampf, wie einer der eher peinlichen Songs von Franz-Josef hieß. Zum Repertoire des Sohne gehören einige Stücke über die Liebe und ihren Verschleiß und andere private Katastrophen, die er mit dem Hinweis ankündigt, solche Lieder gebe es wie Sand am Meer.

Auf der Bühne in Hörbach steht er allein mit der Gitarre. Vor der Pause setzt Kai Degenhard noch die Angebermaschine ein, wie er mit hanseatischem Understatement den Loop Recorder nennt, der vor seinen Füßen steht. Das Gerät wiederholt live gespielte Passagen, die er für das schöne Stück "Weiter draußen" verwendet, in dem die Frage auftaucht, was denn der Protestsongscheiß noch soll.

Sein Programm gibt die Antwort. Die Lieder und Kommentare markieren eine Zeitreise von den Anfängen der APO im Kampf gegen Atomraketen, über die hochfliegenden Träume der 68er-Rebellen, den Militärputsch in Chile, der den Siegeszug des Neoliberalismus eröffnete, bis zu einem locker und leicht gestimmten Lied über das Desertieren, sehr aktuell angesichts des "Ring of Fire", jener Kriegszone die sich heute von der afrikanischen Atlantikküste bis ans Schwarze Meer zieht.

© SZ vom 15.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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